26.07.2021 | Karin Maria Rüsing | Deutscher Bundestag
Mit passgenauer Unterstützung in die digitale Zukunft
Enquete-Kommission "Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt" legt Abschlussbericht mit zahlreichen Handlungsempfehlungen vor
Im Juni 2018 nahm die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission "Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt" ihre Arbeit auf. Ihr Auftrag: die Entwicklungsperspektiven der beruflichen Aus- und Weiterbildung in der künftigen Arbeitswelt zu analysieren, die ökonomischen und sozialen Potentiale einer Modernisierung zu prüfen und daraus für die Politik konkrete Handlungsempfehlungen abzuleiten. Im März 2020 erweiterte die Kommission ihr Themenfeld um die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Nun liegt der Abschlussbericht mit Handlungsempfehlungen vor.
Die Vorsitzende der Kommission, Antje Lezius (CDU). Bild: DBT|Simone M. Neumann
Der Deutsche Bundestag betrachtet Bildung und Qualifizierung als wesentliche Schlüssel, um den digitalen Wandel erfolgreich zu gestalten, wirtschaftliche, ökologische und soziale Innovationspotentiale auszuschöpfen und um die Bildungs- und Teilhabechancen jeder und jedes Einzelnen zu sichern.
Die Aufgabe der Enquete-Kommission war es daher aufzeigen, wo und auf welche Weise die berufliche Aus- und Weiterbildung an die Anforderungen der digitalen Arbeitswelt angepasst werden muss – und inwieweit die Stärken des Systems dabei weiter ausgebaut und mögliche Zugangshürden abgebaut werden können. Die Kommission setzte sich aus 19 Abgeordneten und 19 Sachverständigen aus Praxis, Verbänden und Wissenschaft zusammen.
Angesichts der im März 2020 weltweit ausgebrochenen Corona-Pandemie hatte sich das Aufgabenfeld der Kommission um eine Zielsetzung erweitert: Die massiven Auswirkungen auf die Gesellschaft, aber auch auf die berufliche Bildung, machten es erforderlich, dass die Kommission zu den sich neu abzeichnenden Herausforderungen Stellung bezog. Dies betraf vor allem die längerfristigen Auswirkungen der Corona-Krise auf den Ausbildungsmarkt. Nach fast dreijähriger Arbeit hat die Kommission ihren Abschlussbericht an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) übergeben. Mit Blick auf die Folgen der Pandemie sagte Schäuble, der Bericht komme "zur rechten Zeit".
Pandemie verdeutlicht Notwendigkeit funktionierender Infrastruktur
Wörtlich heißt es im Abschlussbericht: "Bezogen auf die berufliche Bildung insgesamt hat die Corona-Situation komprimiert gezeigt, dass (Bildungs-)Institutionen bei der Digitalisierung von Lehren und Lernen der Unterstützung bedürfen und dass eine funktionierende und leistungsstarke technische Infrastruktur sowie ihre kompetente Nutzung durch Lehrende und Lernende die Grundvoraussetzung sind, um die Chancen der Digitalisierung inklusiv und für alle Zielgruppen, und hier insbesondere die Jugendlichen und Lernenden, gewinnbringend zu nutzen."(1)
"Es gab schon vorher vielfältige Herausforderungen, und die sind in der Pandemie wie unter einem Brennglas hervorgetreten."
Antje Lezius, Kommissionsvorsitzende
Ausdrücklich wird im Abschlussbericht ein "Pakt für berufsbildende Schulen" gefordert, vergleichbar dem "Digitalpakt Schule", der allen berufsbildenden Schulen nachhaltig eine verlässliche Finanzierung digitaler Lernausstattung und -infrastruktur auf hohem Niveau und den Support sicherstellt. Auf Basis ihrer pädagogischen Konzepte sollen die Schulen eigenständig über die Verwendung der Mittel für die Ausgestaltung des digitalen Unterrichts entscheiden können. Ausbildende Betriebe sollen möglichst im Rahmen der Lernortkooperation in die Konzeptarbeit eingebunden werden.
überaus in der Sachverständigenanhörung
In der 21. Sitzung am 4. Mai 2020 diskutierte die Kommission unter der Leitung des damaligen Vorsitzenden Dr. Stefan Kaufmann (CDU) in einer öffentlichen Online-Anhörung "Wege in die qualifizierte Erwerbstätigkeit – Spektrum und Erfolgsfaktoren der Förderinstrumente". Für die Anhörung waren externe Sachverständige der Bundesagentur für Arbeit (BA) und des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) eingeladen worden. Zu ihnen gehörten unter anderen die Leiterin des Geschäftsbereichs Arbeitsmarkt der BA, Nicole Cujai und Frank Neises von der BIBB-Fachstelle Übergänge in Ausbildung und Beruf – überaus. Nicole Cujai berichtete den Kommissionmitgliedern, dass nach der Statistik der BA Menschen ohne Berufsabschluss eine drei Mal höhere Gefahr haben, arbeitslos zu werden. Es sei darüber hinaus wichtig, unter Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorschriften, Plattformen und Messenger-Dienste zu schaffen.(2) Frank Neises erläuterte die Struktur des Übergangsbereichs und leitete Handlungsoptionen aus den vorliegenden Erkenntnissen zu den Förderinstrumenten ab.
Vielfalt der Förderinstrumente diskutiert
Um dem Gremium die Einordnung der Förderinstrumente zu erleichtern, beschrieb Frank Neises die Faktoren, die zu einer stetig wachsenden Passungsproblematik führen: "Auf der einen Seite gibt es Schwierigkeiten, geeignete Auszubildende zu finden, auf der anderen Seite stehen Jugendliche, die keine Ausbildung oder nicht die richtige finden." Einer der Gründe für diese wachsenden Passungsprobleme liege in den enormen regionalen Ungleichheiten beim Verhältnis von angebotenen zu nachgefragten Stellen. Die Angebot-Nachfrage-Relation schwanke je nach Region zwischen circa 80 und bis zu 130 angebotenen Stellen auf je 100 Nachfragende. Besetzungsprobleme gebe es vor allem in Handwerksberufen und Berufen einfacher Dienstleistungen, für kleinere und mittlere Unternehmen sowie für Kleinstbetriebe. "Die Entspannung am Arbeitsmarkt kommt bei Jugendlichen mit Förderbedarf zudem weniger an", stellte Neises fest. Risiken bestünden besonders für Jugendliche ohne Hauptschulabschluss, junge Mütter, aber auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Auch die Förderschule sei oftmals eine "berufliche Sackgasse".
Passungsprobleme am Ausbildungsmarkt, Quelle: Ulrich u. a. 2020
Mit über 300 Angeboten gibt es eine Vielfalt an bundesweit angebotenen Regelinstrumenten, Programmen von Bund und Ländern sowie solchen in schulischen Bildungsgängen. Bisherige Erkenntnisse zeigen laut Frank Neises aber, dass es statt vieler Einzelmaßnahmen eine Prozessbegleitung und "Hilfen aus einer Hand" brauche. Zudem führte er aus, dass 16 dieser Programme explizit auf Herausforderungen der Digitalisierung reagierten. Das sei deshalb besonders wichtig, sagte Neises, weil "gerade für Jugendliche mit besonderem Förderbedarf [...] eine Zunahme der digitalen Spaltung" drohe. Auch die BA-Sachverständige Nicole Cujai hatte zuvor festgestellt, dass es nötig sei, die digitale Vermittlung und die Vertiefung digitaler Kompetenzen in alle Förderleistungen einzubeziehen.(3)
"Menschen ohne Berufsabschluss haben eine drei Mal höhere Gefahr, arbeitslos zu werden."
Nicole Cujai, Sachverständige
Exkurs: Die überaus-Plattform
Frank Neises stellte außerdem die Lern- und Arbeitsplattform der Fachstelle überaus vor, die während der Pandemie starken Zulauf erfahren hatte. Die Plattform ist bundesweit und kostenfrei nutzbar, sie wird ständig weiterentwickelt. Sie bietet eine Reihe von digitalen Werkzeugen zur Kommunikation, Kooperation und Vernetzung. In den Community-, Lern- und Arbeitsgruppen innerhalb des geschlossenen Bereichs der Plattform gibt es zahlreiche Instrumente zur Organisation der Arbeit.
Die Funktionen dieser Plattform sind webbasiert, kommen also ohne die Installation zusätzlicher Software aus und sind von überall für alle Gruppenmitglieder abruf- und nutzbar. Allen Mitgliedern der Plattform steht eine kostenlose App für die Betriebssysteme Android und iOS zur Verfügung. Die Anwendung erlaubt die komfortable mobile Nutzung ausgewählter Funktionen der Plattform und informiert Neuigkeiten, die das Portal betreffen. Außerdem können die Mitglieder über einen Messenger mit anderen Mitgliedern sowie Lehrenden und Lernenden in Kontakt bleiben. Das digitale Angebot erfülle zwei Funktionen, so Neises: es knüpfe einmal an die Lebenswelt und die Nutzungsgewohnheiten der Jugendlichen an, und zugleich könne es die pädagogische Arbeit sinnvoll unterstützen und verändern.
"Digitale Angebote können die förderpädagogische Arbeit unterstützen – sie knüpfen an die Lebenswelt der Jugendlichen an."
Frank Neises, Sachverständiger
Schematische Darstellung des Übergangsbereichs, Quelle: Neises 2020
Reform des Übergangs in die Berufsausbildung
Unmissverständlich stellt die Kommission im Abschlussbericht fest: "Der Übergangssektor in seiner jetzigen Form ist reformbedürftig."(4) Diese Aussage stützt sich auf die Beiträge und Forschungsergebnisse der angehörten Fachleute. Die Wirkungsforschung zeige, dass rund 50 Prozent der Jugendlichen nach einer oder mehreren Maßnahmen eine vollqualifizierende Ausbildung aufnehmen, die verbleibende Hälfte der Jugendlichen aber ohne Einmünden abschließt(5) und dann nicht selten "verschwindet".(6)
Eine inhaltlich aufeinander abgestimmte Beratung und Begleitung im Übergangsprozess hält die Kommission für den entscheidenden Schlüssel zur Problemlösung. Jugendlichen sollte ein transparenter und stringenter Weg in die Berufsausbildung aufgezeigt werden. Doppelstrukturen und Förderlücken müssten vermieden und eine kohärente Förderstruktur im Übergang von Schule zu Beruf ermöglicht werden. Es bedürfe einer individuellen Förderung, die an dem Bedarf der Jugendlichen ausgerichtet ist.(7)
"Der Übergangssektor in seiner jetzigen Form ist reformbedürftig."
Abschlussbericht der Kommission
Plädoyer für individuelle Unterstützung
Ein Plädoyer für die Regelausbildung mit individueller Unterstützung hielt die Sachverständige Bettina Kohlrausch bei der Veranstaltung zur Vorstellung des Abschlussberichts. Zuschauerinnen und Zuschauer hatten die Möglichkeit, per E-Mail Fragen an die anwesenden Fachleute zu stellen. Bettina Kohlrausch antwortete auf die Frage, wie die Teilhabe aller an der digitalen Arbeitswelt sichergestellt werden könne, ohne dass jemand zurück gelassen werde. ©(8)
Duale Ausbildung – ein Angebot für alle jungen Menschen
Wörtlich sagte sie: "Wir machen allen das Angebot einer Berufsausbildung und tun alles dafür, dass sie das auf hohem Niveau schaffen, damit sie in dieser Ausbildung die Qualifikation bekommen, die sie brauchen, um sich dann auf diesem anspruchsvolleren Ausbildungsmarkt behaupten zu können." Die vollständige Antwort von Bettina Kohlrausch ist in diesem Video-Clip zu sehen und zu hören.
"Wir sollten das Berufsbildungssystem zum Instrument machen, das uns hilft, auf den digitalisierten Arbeitsmarkt vorzubereiten."
Bettina Kohlrausch, Sachverständige
Die Gestaltung individueller Wege in den Beruf, insbesondere für jene Personen, die von gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffen oder bedroht seien, stelle eine besondere (gesellschaftliche) Herausforderung dar, formuliert die Kommission. In Zeiten des demografischen Wandels, einer digitalisierten Arbeitswelt und sich verändernder Anforderungen an die Qualifikation werde zunehmend mehr Flexibilität und gleichzeitig aber auch Anpassungsfähigkeit (Adaptabilität) von den Beschäftigten gefordert. Berufsbildung leiste zur Erlangung dieser Kompetenzen einen wichtigen Beitrag und eine fundierte Berufsausbildung schaffe die Grundlage für lebensbegleitendes Lernen.(9)
Optionen im Übergangsbereich
Im Berufsbildungsgesetz heißt es, dass allen jungen Menschen die Chance auf eine Berufsausbildung eröffnet werden müsse, zum "Erwerb beruflicher Handlungsfähigkeit […] in einer sich wandelnden Arbeitswelt" (§ 1 BBiG). Um dieses Ziel zu erreichen, spricht sich ein Teil der Mitglieder der Enquete-Kommission dafür aus, neben der Gewährung eines Nachteilsausgleichs auch Konzepte einer sozialpädagogisch orientierten Berufsausbildung zum Tragen kommen zu lassen. Frank Neises hatte in seinem Vortrag darauf hingewiesen, dass die meisten Förderinstrumente die Elemente Beratung, Begleitung, Qualifizierung und Training enthalten. Bei der Vorbereitung auf die Ausbildung hätten sich vor allem solche Ansätze bewährt, die Betriebsnähe herstellten, also betriebliche Phasen und Praktika integrierten. Eine sozialpädagogische Begleitung könne außerdem dazu beitragen, eine neue Lernkultur mit individueller Unterstützung im Betrieb zu entwickeln.
"Passgenaue Ausbildungsangebote werden immer wichtiger!"
Antje Lezius, Kommissionsvorsitzende
Zu den Instrumenten, die bei den Betrieben bekannt und etabliert sind, gehören laut Neises Förderangebote wie die ausbildungsbegleitenden Hilfen (abH) und die Einstiegsqualifizierungen (EQ), die bundesweit angeboten werden. Bis neuere Maßnahmen, wie die erfolgreich erprobte Assistierte Ausbildung (AsA) eine vergleichbare Bekanntheit erreichten, benötige es erfahrungsgemäß etwas Zeit. Die Maßnahmen sind den Rechtskreisen SGB II (Grundsicherung), SGB III (Arbeitsförderung) und SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) zugeordnet. Eine Herausforderung bestehe in der institutionsübergreifenden Betreuung der jungen Menschen, damit die Angebote aufeinander abgestimmt werden könnten. Die beste Voraussetzung dafür böten Jugendberufsagenturen, in denen die drei Rechtskreise kooperieren. Da sie je nach den Gegebenheiten vor Ort sehr unterschiedlich entwickelt sind, können sie diese Aufgabe übernehmen und angepasst an die lokalen oder regionalen Bedingungen für die Jugendlichen das jeweils passende Angebot auswählen.
Handlungsoptionen im Übergangsbereich, Bild: Alexander Limbach/fotolia, eigene Berarbeitung
Handlungsempfehlungen richten sich an alle Akteure
Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission enthält etwa 400 Handlungsempfehlungen. Nach Ansicht der Vorsitzenden Lezius zählen zu den wichtigsten die Abschaffung des Schulgelds, die stärkere Förderung von internationalen Austauschprogrammen und der Pakt für berufsbildende Schulen. In einem Interview mit dem Online-Dienst des Deutschen Bundestages betont Lezius, dass diese Handlungsempfehlungen nicht nur an den Bund gerichtet seien, sondern auch an die Länder und alle anderen an der beruflichen Bildung beteiligten Akteure. Alle müssten etwas beitragen, sonst funktioniere es nicht.
"Alle müssen etwas beitragen, sonst funktioniert es nicht."
Antje Lezius, Kommissionvorsitzende