26.01.2021
Digitale Ungleichheit in der Wissenschaftsgesellschaft
Wie die Corona-Krise Problemlagen im Bildungsbereich verschärft
von Nicole Zillien und Thomas Lenz
In Corona-Zeiten lassen sich sowohl die Herausforderungen der Digitalisierung als auch die impliziten Schwierigkeiten einer Wissenschaftsgesellschaft wie unter einem Brennglas beobachten – was zwei schon lange schwelende Probleme des Bildungsbereichs freilegt: Erstens kristallisieren sich die digitalen Ungleichheiten in neuer Härte als bildungsbezogenes Problem heraus, zweitens zeigen sich in aller Deutlichkeit die aus der Vorläufigkeit und Konflikthaftigkeit des wissenschaftlichen Wissens resultierenden gesellschaftlichen Unsicherheiten. Diese digitalen Ungleichheiten und Ungewissheiten führen dazu, dass ohnehin schon Bessergestellte ihre gesellschaftliche Position weiter ausbauen können.
Dass das Alltagsleben in hohem Ausmaß von digitalen Ungleichheiten geprägt ist, führt die Corona-Pandemie aktuell in vielfacher Hinsicht vor Augen: Vom sogenannten Homeschooling bis hin zur Verwendung der Corona-Warnapp sind Unterschiede in der Verfügbarkeit und vor allem der Nutzung neuer Technologien von hoher Brisanz. In der Vergangenheit wurde die Verbreitung neuer Medien – ob nun Zeitung, Radio, Fernsehen oder Internet – stets von der Hoffnung begleitet, dass bislang marginalisierte Gruppen eine Stimme im öffentlichen Raum fänden, alternative Themendeutungen Sichtbarkeit erlangten und die Pluralisierung der öffentlichen Meinung vorangetrieben würde. Auch für das Internet wurde von Beginn der Netzverbreitung in den 1990er Jahren an ein entsprechendes Demokratisierungspotential ausgemacht. Schnell zeigte sich jedoch, dass allein schon die Diffusionsraten der Internettechnologie – und somit auch die angenommenen Teilhabechancen – über soziale Gruppen hinweg variieren.
So alt wie das Internet: Digitale Ungleichheiten
Dabei kristallisierte sich stets ein mehr oder weniger gleiches Muster heraus: Höhergebildete, Jüngere, Einkommensstärkere, Männer, in den Städten Wohnende und Berufstätige hatten in Deutschland von Anfang an eher Zugriff auf das Internet, während umgekehrt insbesondere jene von der Nutzung der neuen Medien ausgeschlossen waren, die in geringerem Ausmaß über die von jeher relevanten gesellschaftlichen Ressourcen wie beispielsweise Einkommen und Bildung verfügten. Auch heute noch lassen sich entsprechende Ungleichheiten im Zugang, aber auch in der Art und Weise der Internetnutzung aufzeigen: So dokumentiert der aktuelle Digital-Index der Initiative D21 für Deutschland, dass mittlerweile zwar weit über achtzig Prozent der Bevölkerung das Internet nutzen, dieser Anteil aber beispielsweise in Abhängigkeit vom formalen Bildungsgrad variiert: Formal Höhergebildete verwenden fast ausnahmslos das Internet, während Menschen mit formal niedrigerer Bildung nur zu etwa zwei Dritteln darauf zugreifen.
Eine umfängliche gesellschaftliche Teilhabe erfordert also nicht nur den reinen Zugang zum Internet, sondern auch die dazu notwendigen Kompetenzen.
Bedeutet noch keine gesellschaftliche Teilhabe: Zugang zu einer Tastatur. Bild: Blue Planet Studio/
Adobe StockGenerell besagt die These der digitalen Ungleichheit, dass das Medium Internet die gesellschaftliche Teilhabe der ohnehin schon Bessergestellten erhöht, während Menschen mit geringeren bildungsmäßigen, ökonomischen und sozialen Ressourcen von der potentiellen Information und Partizipation, den digitalen Möglichkeiten und Chancen abgeschnitten werden. Immer mehr Informationen, Dienstleistungen und soziale Kontakte – auch das zeigt nicht zuletzt die Corona-Zeit – lassen sich nur noch ausschließlich über das Internet realisieren. Zudem werden in immer mehr Ausbildungs- und Berufsbereichen digitale Kompetenzen ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Eine umfängliche gesellschaftliche Teilhabe erfordert also nicht nur den reinen Zugang zum Internet, sondern auch die dazu notwendigen Kompetenzen. Bei der Selbsteinschätzung ihrer Computer- und Internetkompetenzen verorten sich Personen mit niedrigem Bildungsniveau allerdings weit unterhalb des Durchschnitts.
Es braucht nicht nur technische Kompetenzen
Das Problem der digitalen Ungleichheit verschwindet nicht einfach mit der gesellschaftlichen Verbreitung internetfähiger Endgeräte, sondern verlagert sich zu einer Ungleichheit der digitalen Kompetenzen und Mediennutzungsweisen. Dabei sind es nicht unbedingt die technischen Kompetenzen im Umgang mit den neuen Medien, sondern vielmehr grundlegendere Schwierigkeiten im Umgang mit medial verfügbarem Wissen, die zum Beispiel dazu führen, dass seriöse Online-Informationen nicht von sogenannten Fake-News unterschieden werden können. Auch formal besser Gebildete tun sich mit der Unterscheidung von Fakt und Fiktion häufig überraschend schwer, wenn ihnen das intellektuelle Handwerkszeug zur kritischen Selektion und Gewichtung von Informationsquellen fehlt. Hier zeigt sich, dass der aufgeklärte Umgang mit einer unsicheren und sich verändernden Faktenlage, wie sie in der Pandemie-Situation vorherrscht, ungeheuer voraussetzungsreich ist.
Technisierung und Verwissenschaftlichung des Alltagslebens führen nicht zu einem Anstieg an gesellschaftlicher Sicherheit – ganz im Gegenteil: Ungewissheiten gehören zum Alltag einer digitalen Wissenschaftsgesellschaft.
Dabei galt Vielen bislang "die" Wissenschaft als sicherer Erkenntnisanker in einem Meer aus Ungewissheit. Die gesellschaftlichen Diskussionen zur pandemischen Situation zeigen jedoch, dass wissenschaftliches Wissen häufig eben auch mit Unsicherheiten einhergeht: In einigen Fragen zur COVID19-Pandemie liegt lediglich vorläufiges und strittiges Wissen vor, so dass in der öffentlichen Debatte nicht selten gegenläufige Expertenmeinungen aufeinanderprallen. Anders als es sich aufgrund des Rationalitätsversprechens der Wissenschaft vermuten ließe, führen die Technisierung und Verwissenschaftlichung des Alltagslebens demnach nicht zu einem Anstieg an gesellschaftlicher Sicherheit – ganz im Gegenteil: Ungewissheiten gehören zum Alltag einer digitalen Wissenschaftsgesellschaft.
Bildungsbezogene Anforderungen einer digitalen Wissenschaftsgesellschaft
Aktuell zeigen sich dann in zweifacher Hinsicht die bildungsbezogenen Anforderungen der Gegenwart: So ist erstens ein fortlaufendes Update der eigenen digitalen Kompetenzen erforderlich. Und zweitens sind die Menschen in einer Wissenschaftsgesellschaft permanent mit der Vorläufigkeit, Konflikthaftigkeit und Unsicherheit wissenschaftlichen Wissens konfrontiert, was noch nie so greifbar war wie im Rahmen der Corona-Krise. Das im Internetzeitalter gefragte Wissen umfasst demnach nicht nur technisches Know-How und Kompetenzen hinsichtlich der Selektion, Bewertung, Einordnung und Vernetzung von Informationen, sondern vielmehr sind Teilhabechancen auch an die Fähigkeit zum Umgang mit pluralen und strittigen Wissensbeständen sowie die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen gebunden.
Lebenslanges Lernen als Privileg - oder Belastung
Wer beispielsweise als Jugendlicher im Schulischen von vornherein Schwierigkeiten hat, wird diese zusätzlichen Anforderungen eher als Belastung empfinden. Darauf verweist ein weiteres Ergebnis des D21-Digital-Index (siehe Abbildung): Die Mehrzahl der befragten Berufstätigen bzw. in beruflicher Ausbildung Befindlichen geht davon aus, dass beruflicher Erfolg lebenslanges Lernen voraussetzt – und mehr als zwei Drittel dieser Befragten empfinden dies als ein Privileg.
Unter jenen, die die Anforderung des lebenslangen Lernens jedoch – ganz im Gegenteil – als eine Belastung bezeichnen, befinden sich tendenziell formal niedriger Gebildete. Zugleich sind es jedoch in der Tendenz die Höhergebildeten und in digitaler Hinsicht Versierteren, die bei sich noch einen Weiterbildungsbedarf zu Digitalthemen ausmachen, während formal niedriger gebildete Beschäftigte angeben, sich den digitalen Anforderungen an ihrem Arbeitsplatz weitgehend gewachsen zu fühlen. Diese Einschätzung kann jedoch, wie es der Bericht von D21 formuliert, "trügerisch" sein: So könnte es sein, dass gerade Menschen aus Berufsfeldern mit geringerem Digitalisierungsgrad "künftige Anforderungen an digitale Fertigkeiten nicht adäquat einschätzen, womit sie dem Risiko ausgesetzt sind, den Anschluss an die Ansprüche der digitalisierten Berufswelt zu verlieren".
Schwächere Schülerinnen und Schüler und Auszubildende im Übergang zur Berufswelt stellen vor diesem Hintergrund eine Gruppierung dar, die in besonderem Maße auf die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen angewiesen ist – und zugleich entsprechende Bildungsanstrengungen sowohl in ihrer Relevanz unterschätzt als auch gegebenenfalls als belastende Anforderung empfindet.
Die Profiteure profitieren, während die Abgehängten noch weiter abgehängt werden.
Online-Wissen in Teilhabechancen ummünzen
Dass der Verwertungsvorteil im Internet erworbener Teilhabechancen typischerweise auf Seiten von Statushöheren liegt, ist der eigentliche Kern der online generierten Ungleichheit – und erklärt auch deren Hartnäckigkeit. Verschärfend lässt sich beobachten, dass aus der Verfügbarkeit digitaler Technologien nicht nur, wie in den Anfangstagen der digitalen Ungleichheitsforschung gemeinhin angenommen, auf Seiten der versierten Nutzerinnen und Nutzer ein positiver Selbstverstärkungsprozess resultiert, während sich die in digitaler Hinsicht weniger Versierten unterm Strich weder besser noch schlechter stellen. Vielmehr zeigt sich, dass mit der digitalen Durchdringung der Gesellschaft ein negativer Spiralprozess auf Seiten jener, die nicht über die in einer digitalen Wissenschaftsgesellschaft erforderlichen Ressourcen verfügen, immer plausibler wird. In diesem Fall träfe das vielfach bemühte Bild der sozialen Schere auch auf die internetgenerierten Ungleichheiten zu: Die Profiteure profitieren, während die Abgehängten noch weiter abgehängt werden.
Weitere Informationen
- Initiative 21: DIGITAL-INDEX 2019 / 2020
Die Gesellschaftsstudie D21-Digital-Index bietet ein jährliches Lagebild zum Digitalisierungsgrad der Gesellschaft in Deutschland. Befragt werden knapp 20.500 BundesbürgerInnen ab 14 Jahren inklusive der Offliner.