21.03.2023
Flexibel, mobil und motivierend
Mit Jugendsozialarbeit Anschluss und Übergänge auch für Menschen in schwierigen Lebenslagen möglich machen
von Annabelle Brumm und Frank Neises
Etwa 15,5 Prozent der jungen Menschen im Alter von 20 bis 34 Jahren haben keine ausreichende Qualifikation für einen erfolgreichen Übergang in Ausbildung und Beruf und oft werden sie von staatlichen Angeboten nicht mehr erreicht. Eine Lösung kann die aufsuchende und quartiersbezogene Jugendsozialarbeit sein, wie sie der Berliner Verein Gangway seit vielen Jahren erfolgreich praktiziert. Über den Aufbau verlässlicher Beziehungen wird bedarfsgerechte Unterstützung möglich und passende Wege in die Hilfesysteme können gefunden und gemeinsam gegangen werden. Die Beziehungsarbeit ist die Basis für eine erfolgreiche und individuelle Übergangsgestaltung.
Soziale Integration und Fachkräftesicherung – zwei Seiten einer Medaille
Aus der bildungspolitischen Perspektive wird häufig auf Jugendliche und junge Erwachsene als Fachkräfte von morgen geblickt, denn die gesellschaftlichen Aufgaben sind groß und jede und jeder wird als Fachkraft gebraucht. Ob zur Bewältigung der Transformation in der Energiewirtschaft, für die Zukunftsaufgaben der Informationstechnik oder aber für die Herausforderungen, die eine älter werdende Gesellschaft mit sich bringt: die Liste ist lang, aber die Zahl der jungen Menschen begrenzt. Trotzdem bleiben Ausbildungsstellen unbesetzt und die Zahl der Nicht-Qualifizierten zwischen 20 und 34 Jahren liegt bei 15,5 Prozent dieser Alterskohorte. In der Folge verfestigen sich die so genannten Passungsprobleme, mit erfolgloser Marktteilnahmen auf beiden Seiten des Ausbildungsmarktes (1).
Entwicklung von Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsmarkt 2009 – 2021
Seit der Corona-Pandemie geht die Zahl der bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) gemeldeten Bewerberinnen und Bewerber zurück und Fachleute fragen nach dem Zusammenhang mit der fehlenden Begleitung und Unterstützung in dieser Zeit. Gelegentlich macht der Begriff der Generation Corona die Runde. Die Zufriedenheit der jungen Menschen mit der Situation in Schule, Ausbildung oder Studium ist laut dem Deutschen Jugendinstitut von 2019 auf 2021 von 71 Prozent auf 55 Prozent gesunken.(2) Darüber hinaus offenbart die Studie "Jugend in Deutschland" wachsende Zukunftssorgen der jungen Generation.(3) Häufig wird beklagt, dass Hilfsangebote inhaltlich aber auch räumlich zu weit weg von den Jugendlichen sind. Dabei muss sich auch die Angebotsseite selbstkritisch fragen, wie jugend- und zielgruppengerecht die bisherigen Formen von Beratung, Unterstützung und Begleitung am Übergang zwischen Schule und Beruf sind. In Ansätzen findet diese Kritik statt. So stellt Lisa Steinberg von der BAG EJSA in der Zeitschrift "dreizehn" für Jugendsozialarbeit die Frage, wer denn "schwer zu erreichen" ist. Sind es die jungen Menschen oder die Angebote und Institutionen?(4)
Eine Frage der Haltung
Der Berliner Verein Gangway hat seit über dreißig Jahren umfassende Erfahrungen in der aufsuchenden Sozialarbeit mit jungen Menschen, die vom herkömmlichen Hilfesystem nicht mehr erreicht werden können oder werden wollen. Dabei sind viele unterschiedliche, lebendige Formate und Ansätze entstanden, wie man Jugendliche aufsucht, ihnen in ihren Lebensräumen begegnen kann, sie durch enge Beziehungsarbeit begleitet, kontinuierliche Unterstützung bietet und sie an weitere Hilfesysteme, zum Beispiel die Jugendberufsagentur, anschließt.
Da sein, wo die Menschen sind – der Grundsatz von Gangway. Bild: Gangway
Zunächst ist die Grundhaltung von Bedeutung, mit der man Jugendlichen im pädagogischen Handeln begegnet. Der Verein formuliert seine Philosophie wie folgt: "Wir suchen die Menschen, mit denen wir arbeiten, in ihren Lebenswelten auf. Dort sind wir Gäste – respektvoll, wertschätzend und aktiv zuhörend." Das bedeutet: Die Streetworker*innen begeben sich auf Augenhöhe mit den jungen Menschen, akzeptieren und respektieren sie, ohne Bedingungen zu stellen. Sie sind es, die zu den Menschen hingehen, ihnen zuhören und dann je nach Bedarf ihre Unterstützung anbieten. Dabei entscheiden die jungen Menschen, was sie gerade in welchem Umfang brauchen und welche Informationen sie preisgeben wollen. Aufsuchende Jugendhilfe und Streetwork bewegen sich damit weg von einer Beratung mit Komm-Struktur hin zu einer Geh-Struktur, die sich auf die persönlichen Lebenswelten einlässt.
Aufsuchende Jugendhilfe und Streetwork bewegen sich weg von einer Beratung mit Komm-Struktur hin zu einer Geh-Struktur, die sich auf die persönlichen Lebenswelten einlässt.
Die klassischen Beratungsverhältnisse werden dabei umgekehrt: Die Jugendlichen sind die Expert*innen ihrer Lebenswelt und Bedürfnislage. Sie geben die Zielrichtung bei der Zusammenarbeit vor, die Fachkräfte zeigen ohne Wertung Handlungsmöglichkeiten auf und begleiten sie Menschen auf dem von ihnen gewählten Weg. Durch kontinuierlichen Kontakt bauen sich Vertrauen und eine Arbeitsbeziehung auf, auf deren Grundlage Impulse für Veränderungen gegeben werden können.
Wenn man genau hinsieht: Hinter dem Geländer ist ein Beratungsplatz. Bild (mit Filter): Gangway
Diese Herangehensweise stärkt nicht nur Reflexions- und Entscheidungsfähigkeit, sondern sie bewirkt, dass junge Menschen Selbstwirksamkeit im Handeln erfahren. Dazu gehört es auch, mögliches Scheitern oder einen Kontaktabbruch zu den Sozialarbeitenden anzunehmen, ohne zu sanktionieren.
Auch bedeutet dies eine grundlegende Veränderung des pädagogischen Handelns, nämlich raus aus der "Komfortzone" des eigenen Büros. Hans Thiersch hat den Ansatz der lebensweltorientierten Jugendhilfe als "ganzheitliche Wahrnehmung von Lebensmöglichkeiten und Schwierigkeiten, wie sie im Alltag erfahren werden" beschrieben.(5) Dazu gehört auch, dass das Verhältnis der pädagogischen Fachkräfte zu den jungen Menschen immer auf professionelle Weise reflektiert wird. Helmut Schelsky hat dies in den 1970er Jahren mit der Fragestellung thematisiert, "ob der betreute Mensch Produkt der Betreuer ist".(6)
Über GangwayGangway – Straßensozialarbeit in Berlin e.V. macht aufsuchende Sozialarbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie mit erwachsenen Wohnungs- und Obdachlosen. Der Verein besteht aus 125 Mitarbeitenden und ist damit der größte Streetworkverein in Deutschland. Er ist berlinweit aktiv und finanziert sich durch öffentliche Mittel und Spenden. Allein die Gangway-Jugendteams führten 2021 fast 16.600 Beratungen durch und erreichten 4.400 junge Menschen. Das Spektrum der Beratung reicht von der kurzen Impulsberatung bis hin zu Wochen oder Monate andauernden intensiven Einzelbegleitungen. Durch die Jugendlichen unterbrochene Prozesse können von diesen jederzeit wieder aufgenommen werden. Eine vielfältige Gruppen- und Projektarbeit ermöglicht selbstbestimmte, niedrigschwellige Freizeitgestaltung für junge Menschen, und sie schafft Vertrauen und Raum für Begegnungen der begleiteten jungen Menschen innerhalb ihrer Peergroups und Szenen.
Bildung in Berlin – Traum oder Albtraum?
Die Hauptstadt kokettiert bisweilen mit ihren Eigen- und Besonderheiten. Auch in den Bereichen Bildung und Ausbildung werden diese offenbar. Trotz manch offensichtlicher Schwachstelle ist die Anziehungskraft der Hauptstadt, gerade auf junge Menschen, auch dank ihrer vielfältigen Angebote in den genannten Bereichen groß. Was für die einen dabei die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten ist, ist für andere eher die Stadt der unbegrenzten Überforderung. Zwar gibt es analog wie digital vielfältige Orientierungsangebote und mit der Jugendberufsagentur sogar ein eigenes Angebot der Stadt und des Landes Berlin für die Beratung und Vermittlung am Übergang Schule – Beruf, jedoch werden insbesondere die jungen Menschen davon nicht erreicht, die sich aus verschiedensten Gründen vom Hilfesystem abgewandt haben. Mit diesen jungen Menschen arbeitet Gangway. Gerade sie haben einen großen Bedarf bei der Beratung – von der Berufsorientierung bis hin zu alternativen Bildungsmöglichkeiten abseits des Schulsystems. Aus diesen Bedarfen heraus sind bei Gangway unterschiedliche Projekte und Angebote entstanden.
Wege aus der Isolation – das 16h-Projekt "Brücken Bauen"
Beratung im öffentlichen Raum, hier an der Halfpipe. Bild: Gangway
Der Grundsatz, dorthin zu gehen, wo sich Jugendliche aufhalten, führt in den allermeisten Fällen in den öffentlichen beziehungsweise halb-öffentlichen Raum. Doch gibt es ebenso junge Menschen, die einen (zum Teil hohen) Unterstützungsbedarf haben und sich in ihren eigenen vier Wänden isolieren. Diese erreicht Gangway derzeit über das §16h-Projekt "Brücken Bauen" in drei Bezirken Mitte, Lichtenberg und Pankow, in Kooperation mit der Wetek Berlin gGmbH, einer gemeinnützigen Gesellschaft für Qualifizierung, Ausbildung und Jugendkultur, und dem für den Bezirk zuständigen Jobcenter. In diesem Projekt wird jungen Menschen im Transferbezug, meistens Bürgergeld (ehemals ALG II), zu denen der Kontakt abgebrochen ist, angeboten, mit den Streetworker*innen dem Projekt in Kontakt zu treten und sich Unterstützung zu holen. Um dieses Angebot zu unterbreiten, können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von "Brücken Bauen" die jungen Menschen auch zu Hause aufsuchen. Die hierfür nötigen Informationen erhalten sie vom Jobcenter. Auch bei dieser Kontaktaufnahme an der eigenen Wohnungstür gelten die Grundsätze der Straßensozialarbeit, insbesondere das Prinzip der Freiwilligkeit. Kommt der Kontakt zustande, wird eine längerfristige Zusammenarbeit angestrebt, deren Ziel die Verselbstständigung des jungen Menschen ist.
Ein FallbeispielA, 23, wird im Februar 2020 von den Mitarbeitenden aus dem Team "Brücken Bauen" aufgesucht, weil der Kontakt zum Jobcenter schon länger abgebrochen ist. Er ist verschuldet, leidet unter familiären Konflikten im Elternhaus, ist resigniert und niedergeschlagen, hat keine Vorstellungen zu seiner beruflichen Zukunft. Mithilfe des Projekts probiert er sich in verschiedenen Bereichen aus und bewirbt sich schließlich für eine Ausbildung zum U-Bahn-Fahrer – mit Erfolg! Begleitet durch einen Projektmitarbeitenden lässt er sich auf eine Schuldnerberatung ein und erzielt mit deren Hilfe einen Vergleich mit den Gläubigern, sodass er in näherer Zukunft schuldenfrei ist. Nach Ausbildungsbeginn bezieht er außerdem eine Wohnung in Berlin und verlässt schließlich erfolgreich das Projekt.
Streetwork am Übergang Schule – Beruf: die JobInn-Teams
Zaunbörse mit JobInn-Beratung. Bild (mit Filter): Gangway
Berufliche Beratung gibt es schon lange bei Gangway, aufsuchende Jugendsozialarbeit in Kooperation mit der Jugendberufsagentur Berlin dagegen ist ein neuer Schwerpunkt in der Arbeit des Vereins mit jungen Menschen im öffentlichen Raum. Der Zusammenhang ist der: In Jugendberufsagenturen arbeiten Agentur für Arbeit, Jobcenter und Jugendhilfe zusammen, um durch vernetzte Beratung, kurze Wege und schnelle Kontakte einen im Sinne der jungen Menschen reibungslosen Ablauf zwischen den verschiedenen Sozialleistungsträgern sicherzustellen. Dabei arbeiten sie auch mit Kooperationspartnern wie Gangway zusammen. In diesem Fall übernehmen die JobInn-Teams von Gangway den aufsuchenden Part der Jugendberufshilfe an den Standorten der Jugendberufsagentur Berlin in den Stadtteilen Mitte, Neukölln, Pankow und Reinickendorf. Die JobInn-Teams arbeiten in ihren jeweiligen Bezirken in Abstimmung und Absprache mit den Streetwork-Teams von Gangway oder auch weiteren Projekten für aufsuchende Arbeit zusammen. Sie suchen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie Flüchtlingsunterkünfte auf und beraten dort vor Ort. Die angesprochenen jungen Menschen haben in den meisten Fällen keine Kenntnisse von den Angeboten der Jugendberufsagentur, dafür aber oft schlechte Erfahrungen mit Behörden. Eine wichtige Aufgabe der Beratung besteht also zunächst darin, Vertrauen aufzubauen, sodass die Jugendberufsagentur als Unterstützungsangebot wahrgenommen werden kann.
Das JobInn-Angebot |
---|
• Orientierung und Beratung in allen Lebenslagen, besonders aber zur (beruflichen) Zukunft • Erkunden der Stärken und Interessen, um passende Ausbildung, passenden Job zu finden • Kontakt zu Hilfesystemen und/oder Bildungsträgern herstellen • Suche nach passenden Schulen, Praktikums- und Ausbildungsplätzen • Begleitung zu Ämtern und anderen Terminen |
Die JobInn-Kolleg*innen informieren verständlich und zielgruppengerecht, begleiten zu Terminen mit Mitarbeitenden der Jugendberufsagentur und ermöglichen so einen niedrigschwelligen Zugang. Auf der anderen Seite sind sie eng mit den Mitarbeitenden an den Standorten der Jugendberufsagentur verbunden und kommunizieren deren Unterstützungsangebote an die jungen Menschen. So gesehen arbeiten die JobInn-Teams als Türöffner für die und zur Jugendberufsagentur.
Die Bedarfe der jungen Menschen variieren stark. Manche brauchen nur eine einmalige Beratung oder kurzfristige Begleitung zu bestimmten Möglichkeiten am Übergang Schule – Ausbildung – Beruf wie Ausbildungsmöglichkeiten, Praktika oder Schulabschlüssen. Andere haben komplexere Problemlagen und bedürfen intensiverer, längerfristiger Begleitung, da vorgelagerte Probleme wie Schulden, Wohnungsnot, Substanzkonsum oder psychische Erkrankungen zuerst angegangen werden müssen.
Die Dauer einer Begleitung ist bei allen Teams zeitlich unbefristet. So kann Drehtüreffekten vorgebeugt werden.
Die Anzahl von kurz- und langfristigen Begleitungen unterscheidet sich von Bezirk zu Bezirk. Die Dauer einer Begleitung ist aber bei allen Teams zeitlich unbefristet. Das bedeutet, auch nach erfolgreicher Vermittlung in weiterführende Angebote, eine Ausbildung oder Arbeit, bleibt JobInn ansprechbar bei allen Herausforderungen, die der weiteren Verselbstständigung im Wege stehen. So kann Drehtüreffekten vorgebeugt werden.
"Wir nehmen uns Zeit für die jungen Menschen" – Hüsniye Sağırmahmutoğlu, Gangway Berlin
Hüsniye Sağırmahmutoğlu arbeitet im Gangway-JobInn-Team Neukölln. Im Interview erläutert sie, dass Lockerheit im Umgang oft den Kontakt überhaupt erst möglich macht, und dass die Unterstützung vor allem auf Hilfe zur Selbsthilfe ausgerichtet ist. Bild: Gangway
Ein FallbeispielEin junger Geflüchteter lebt in einer Sammelunterkunft, hat gerade die erweiterte Berufsbildungsreife bestanden, leidet jedoch an einer posttraumatischen Belastungsstörung und in diesem Kontext vor allem auch an Schlafstörungen. Medikamente dagegen setzt er eigenständig ab. Deshalb mangelt es ihm jedoch an Zuverlässigkeit (Pünktlichkeit am Morgen) und Durchhaltevermögen. Die Mitarbeitenden von JobInn helfen ihm dabei, Maßnahmen der Berufsorientierung wahrzunehmen oder kleinere Jobs zu finden, jedoch nie mit längerfristigem Erfolg. Irgendwann hat er genug vom "Rumsitzen" in der Unterkunft und kommt wieder auf das JobInn-Team zu, das ihm einen Lehrbauhof in einem weiter entfernten Stadtteil vorschlägt. Dort bewährt er sich – entgegen den Erwartungen – so gut, dass der Lehrmeister sich für ihn einsetzt und er eine Ausbildung zum Straßenbauer anfängt. Die Unterstützung des JobInn-Teams endet hier jedoch nicht, denn es zeigt sich, dass große Defizite in Deutsch bestehen, er Schulden hat und natürlich die Wohnsituation immer noch prekär ist – und demnach weiterer Unterstützungsbedarf besteht, den die Sozialarbeitenden gemeinsam mit dem jungen Mann nach und nach angehen.
Berufsorientierung bei Gangway – Stärken und Stärkung im Mittelpunkt
Die akzeptierende, wertschätzende Grundhaltung von Gangway spiegelt sich auch in der Art der beruflichen Orientierung wider. Den jungen Menschen zuzuhören, ihre Interessen ernst zu nehmen und Stärken herauszustellen, bildet dabei die Basis. Das bedeutet auch zu akzeptieren, dass Berufsorientierung ein Prozess ist, der nicht immer linear verläuft, sowie Motivationen für Berufswünsche zu hinterfragen und einen Prozess der Selbstreflexion anzustoßen.
Wenn alle Ideen sortiert sind, werden Ziele deutlich. Bild: Gangway
Eine Möglichkeit dafür bietet beispielsweise eine von Gangway genutzte Berufsorientierungsmethode, bei der Stärken und Interessen aufgezeigt werden. Zuerst identifizieren Streetworker*in und junger Mensch gemeinsam dessen Stärken und besprechen sie nach sozialen, intellektuellen und handwerklichen Gesichtspunkten. Danach werden die individuellen Interessen gesammelt und hinterfragt. Oft sind junge Menschen überrascht über die Vielzahl von Stärken, die sich ihnen dabei offenbaren, und reflektieren gleichzeitig mit den Streetworker*innen zusammen über den Ursprung ihrer Interessen. So gelangen sie selbst zu dem Schluss, welches Interesse sie weiterverfolgen wollen. Das Ergebnis wird geclustert und nochmals ausgewertet. Daraus ergeben sich dann mögliche Nahziele und ein Fernziel für die Berufswahl. Insgesamt dauert dieses Vorgehen in der Regel ein bis zwei Stunden und wird vor allem bei jungen Menschen genutzt, die eher verschlossen sind beziehungsweise wenig Vorstellung davon haben, welche Fähigkeiten und Soft Skills sie eigentlich besitzen.
Das JobInn-Fotostudio in Pankow. Bild: Gangway
Außerdem unterstützt Gangway bei der Suche nach passenden (Aus-)Bildungsmaßnahmen, beim Vorbereiten der Bewerbungsunterlagen, beim Anschreiben oder sogar beim Erstellen eines professionellen Bewerbungsfotos. JobInn Pankow hat das Büro dafür eigens um ein kleines Fotostudio erweitert. Auslöser hierfür waren die geschlossenen Fotostudios in der Hochphase der Pandemie.
Street College – radikal bedarfsorientiert lernen
Kreativ im Street College. Bild: Gangway
Lernen, was Du willst, wann Du willst, wie Du willst. Nach diesem Prinzip funktioniert das Street College bei Gangway – und der Erfolg beweist, wie Potenziale und Stärken gefördert werden können, ohne Leistungszwang zu erzeugen. In den Fakultäten Lernlabor und Künstlerische Praxis können sich die Studierenden hier kostenfrei auf Schulabschlüsse wie die Berufsbildungsreife, die erweiterte Berufsbildungsreife oder den Mittleren Schulabschluss vorbereiten oder sich in Musik, Modedesign, Schauspiel, Film, Zeichnen und Design weiterbilden. Dazu werden die Studierenden durch Fachkräfte sozialarbeiterisch begleitet. Das Street College steht theoretisch jedem (jungen) Menschen offen. Aufgrund seiner radikalen Bedarfs- und Stärkenorientierung tummeln sich dort aber jene Menschen, die in Schule, OSZ (Oberstufenzentren), Ausbildungsbetrieb und ähnlichem, – also vor allem im herkömmlichen Bildungssystem – nicht zurechtkommen. Es gibt junge Menschen, die ihren Abschluss nachholen oder einen höheren erreichen wollen. Genauso gibt es junge Menschen, die sich auf die Kunst als Lebensweg fokussieren wollen, und die die Kurse im Street College zum Beispiel zur Vorbereitung auf die Bewerbung an einer künstlerischen Hochschule nutzen. Bisher gibt es nur im Kurs "Künstlerisch basierter Audio Engineer" einen zertifizierten Diplom-Abschluss.
Weiterentwicklung von Angeboten in der Corona-Pandemie
Die Corona-Pandemie stellte die Arbeitsgrundlage von Gangway insgesamt auf den Prüfstand, immerhin war die Devise plötzlich "Stay home" und die Arbeit im öffentlichen Raum streng reglementiert. Unter dem Motto "Social Distance but close to you" reagierte der Verein auf die neue Situation mit Fensterberatung, Zaunbörsen und einer Klimaoase.
Die Gangway-Beratungs-Oase. Auch ein Angebot aus der Corona-Zeit. Bild: Gangway
Die Kontaktaufnahme und das Kontakthalten in dieser Zeit waren stark erschwert, jedoch nicht unmöglich. Ließen Temperaturen und Wetterbedingungen es zu, traf man sich draußen auf Büroterrassen oder Parkbänken zum Gespräch. Manches Team mit Erdgeschossbüro lud zur "Fensterberatung" ein. Lastenräder wurden als mobiler Tresen und zugleich Abstandhalter für Beratungsangebote eingesetzt – mit praktischem Stauraum für Informationsmaterial oder wahlweise kalten oder heißen Getränken. Da viele Ausbildungsmessen ausgefallen waren, veranstaltete ein Verbund aus verschiedenen Trägern in Pankow eine "Zaunbörse" vor einem Jugendclub, um Kontakte zwischen Betrieben und jungen Menschen zu ermöglichen. Dies war so erfolgreich, dass das Konzept fortgeführt wurde.
Fensterberatung, Zaunbörsen, neue digitale Angebote – in der Zeit der Corona-Beschränkungen setzte Gangway mit findigen Ideen die Betreuung fort.
Im Wedding ließ sich das Jugendstreetworkteam von der sogenannten "Klimaoase" inspirieren, einem mit Bänken und Tisch ausgebauten Autoanhänger, der 2020 für einige Wochen vorm Teambüro als ausgegliederte Terrasse genutzt wurde. Im Jahr 2021 kaufte sich das Team einen eigenen Anhänger und baute ihn zusammen mit Jugendlichen und einem engagierten Schreiner zur Gangway-Oase um. Diese wird seither für Beratungen, Stadtteilfeste und Aktionen oder einfach so von den Jugendlichen zum "Abhängen" benutzt.
Frag den Impfarzt: auf Instagram live. Bild: Gangway
Gerade in der Hochphase der Pandemie war es jedoch ebenso notwendig, digitale Kanäle zu bespielen, um mit den jungen Menschen in Kontakt zu bleiben. Die Beratung im digitalen Raum wurde zur niedrigschwelligen Angebotserweiterung. Zum einen waren dies Messengerdienste wie WhatsApp oder Telegram, zum anderen Soziale Netzwerke, vor allem Instagram. Hier entwickelten sich kreative Formate, um Informationen verständlich zu machen, in der Langeweile des Lockdowns zu unterhalten oder auch die Perspektive junger Menschen zu erzählen, die in der Öffentlichkeit lange als egoistische Pandemietreiber gesehen wurden. So gab es selbstgezeichnete Comics zum Durchbrechen von Infektionsreihen und Hinweise zu den aktuellen Corona-Regelungen. Ein Impfarzt ging zusammen mit einem Jugend-Streetwork-Team auf die Rundgänge und weil das so gut funktionierte, wurde später eine Fragerunde als Live-Übertragung auf Instagram gestartet.
Nachdenken über sich und andere auf Instagram. Bild: Gangway
Ein anderes Team sendete jede Woche für eine halbe Stunde live auf Instagram, um seinen Jugendlichen die aktuellen Corona-Regeln näher zu bringen, aber auch, um durch Interviews, Sportangebote und ähnliches zu unterhalten. Es gab Quiz-Reihen zu verschiedenen Themen wie Drogen oder Sexualität. Manche Teams spielten bei Fifa digital Fußball gegen und mit ihren Jugendlichen. Abseits des Spiels kam man dann ins Gespräch und nicht selten in eine Beratung.
In der Instagram-Reihe "Stimmen aus dem Off" schickten junge Menschen ihren Streetworker*innen Sprachnachrichten, in denen sie von ihrem Leben im Lockdown und ihren Gedanken erzählten. Dazu wurden dann von einer Streetworkerin durch die iPhone-App sogenannte Memoji-Gesichter animiert, um die ganze Situation fassbarer zu machen. Für die direkte, unkomplizierte Kontaktaufnahme wurde ein auch heute noch aktiver Beratungsservice namens Gangway OnLine eingerichtet. Dort kann sich jede*r rund um die Uhr über Whatsapp, Telegram, Facebook oder Instagram mit ihrem oder seinem Anliegen melden und wird von dort aus an die richtige Stelle intern oder extern vermittelt.
Inzwischen hat sich jedoch ein Großteil der Kommunikation wieder in den analogen Raum verlagert, denn der persönliche Kontakt ist für die Beratung gerade bei komplexen und anspruchsvollen Gesprächsthemen unersetzlich. Besonders für kurzfristige Abstimmungen bieten die Messenger allerdings weiterhin einen niedrigschwelligen Zugang. Auch sind viele Mitarbeitende inzwischen sicherer beim Umgang mit Instagram.
Fazit
Was die Arbeit von Gangway auszeichnet und in vielen Fällen so erfolgreich macht, ist das aktive Zuhören und die Akzeptanz und Wertschätzung des jungen Menschen als ebenbürtiges Gegenüber. Um eine solche Grundhaltung zu erlangen, kann es sinnvoll sein, die Komfortzone Büro oder Beratungsstelle zu verlassen und Beratung am Übergang Schule – Ausbildung – Beruf in neutrale Räume oder von jungen Menschen bevölkerte Räume zu verlegen. Das heißt nicht, dass jede beruflich beratende Tätigkeit ab sofort aufsuchend sein soll, sondern eher das Anbieten einer solchen Beratung dort, wo sich junge Menschen wohl fühlen und sich gern aufhalten. Dies kann zu einem Abbau von Machtunterschieden beitragen und gerade für die Arbeit der Jugendberufsagenturen ein wichtiger Ansatzpunkt sein, um schwer erreichbare Jugendliche zu unterstützen.
"Jeder Mensch ist dazu bestimmt, ein Erfolg zu sein, und die Welt ist dazu bestimmt, diesen Erfolg zu ermöglichen."
UNESCO-Bericht 1972
Ob eine Kommunikation auf Augenhöhe gelingt, darüber entscheidet letztlich aber die Offenheit der beratenden Person, sich auf den jungen Menschen einzulassen und ihn mit all seinen Stärken und Schwächen in einem positiven Licht und als potenziellen Erfolg zu sehen. Wird diese Grundhaltung nicht verinnerlicht, bringt auch ein Ortswechsel der Beratung nur wenig. Gern zitiert Gangway in diesem Kontext aus dem UNESCO-Bericht "Wie wir leben lernen" aus dem Jahr 1972: "Jeder Mensch ist dazu bestimmt, ein Erfolg zu sein, und die Welt ist dazu bestimmt, diesen Erfolg zu ermöglichen."(7)