19.10.2021
Berufsorientierung – was folgt aus der Corona-Krise?
Probleme, Erkenntnisse und Lösungsansätze
von Petra Lippegaus
Für Jugendliche war der Übergang von der Schule in den Beruf unter Corona- und Lockdown-Bedingungen erheblich erschwert, viele fühlten sich übersehen, ihre Interessen und Bedürfnisse weitgehend ausgeblendet. Das Pandemie-Management ließ eine Berufsorientierung im Sinne von Auseinandersetzung mit der Berufs- und Arbeitswelt und von persönlicher Entwicklung kaum zu, soziale Ungleichheiten und Benachteiligungen verstärkten sich. Welche notwendigen Veränderungen zeigt diese Krise, welche Schlussfolgerungen müssen daraus gezogen werden? Petra Lippegaus, Professorin an der SRH Hochschule in Nordrhein-Westfalen, geht dieser Frage im Gastbeitrag für die Fachstelle überaus nach. Sie stellt die Krise in einen historischen Kontext, nutzt sozialpädagogische Erkenntnisse und beleuchtet digitale Lösungsansätze für die Zukunft.
Krisen spiegeln die gesellschaftlichen Probleme wie unter einem Brennglas – das ist nicht nur in der Corona-Krise so. Gleichzeitig bieten sie Gelegenheiten, Kritisches klarer zu erkennen, Bewährtes anzupassen und neue Ideen, neue Lösungen zu entwickeln. So entstanden die heutige Form der dualen Ausbildung im Wandel und Massenelend der Industrialisierung und die Jugendberufshilfe in der Krise nach dem ersten Weltkrieg. Berufsorientierung erhielt in der Zeit der hohen Jugendarbeitslosigkeit nach der Wiedervereinigung verstärkte Bedeutung, ab 2000 lief das wegweisende Programm "Schule – Wirtschaft/Arbeitsleben".(1)
Zug abgefahren? Viele junge Menschen fühlen sich in der Corona-Krise nicht mitgenommen. Bild: Jo Panuwat D/
Adobe StockWas entsteht aus und nach der Corona-Krise? Allmählich zeigt sich, dass junge Menschen auf vielfältige Weise nicht mitgenommen wurden. Auch jetzt noch fokussieren viele Vorschläge auf die Rolle als Schülerinnen und Schüler sowie als zukünftige Fachkräfte, die trotz der Krise fit sein sollen für die (digitale) Arbeitswelt. Dieser Beitrag geht von den jungen Menschen aus, von ihren Lebenslagen und ihren Entwicklungsbedürfnissen. Die Corona-Krise hat gezeigt, wie wichtig wissenschaftliche Erkenntnisse und eine historische Verortung sein können. Beides dient auch in diesem Gastbeitrag dazu, Antworten auf die Fragen nach den richtigen Weichenstellungen zu finden.
Fakten zur Berufsorientierung und zum Ausbildungsmarkt
Im Jahr 2020 sind 11 Prozent weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen worden als im Vorjahr.(2) Damit setzt sich ein Trend fort, der durch Corona noch verstärkt wurde. Bei den Bewerberinnen und Bewerbern verzeichnete die Bundesagentur für Arbeit im Beratungsjahr 2020 (ab dem 01. Oktober 2020) einen Rückgang von acht Prozent. Dabei gibt es im Jahr 2021 zwei Prozent mehr Schulabgängerinnen und -abgänger als im Vorjahr. Hinzu kommt ein Prozent mehr Altbewerberinnen und Altbewerber, also Ausbildungsplatzsuchende, die im Corona-Jahr 2020 erfolglos geblieben waren.(3)
Berufsorientierungsangebote sind zu einem großen Teil ausgefallen. Viele Einrichtungen wie überbetriebliche Bildungseinrichtungen, Bildungsträger und Beratungsstellen blieben im Lockdown zum Teil ebenso geschlossen wie die Berufsberatung und viele Betriebe – so konnten betriebliche Praktika entweder gar nicht oder nur in bestimmten Branchen stattfinden. Trotz Kontaktverbots und erheblich eingeschränkter Berufsmöglichkeiten blieb in der schulischen Berufsorientierung das Praktikum zum Teil verpflichtend.(4) Virtuelle Angebote entstanden erst allmählich.(5) Hinzu kam, dass für Jugendliche auch die Möglichkeit, sich im Bekannten- und Freundeskreis über Berufswahl zu unterhalten oder Unterstützung durch eine Mentorin oder einen Mentor zu erhalten, deutlich zurückging.(6)
Stellschrauben und Leitbilder
Sozialpolitischen Entscheidungen liegen Bilder zugrunde, die Vorstellungen von Normalität bündeln und handlungsleitend sind. So gilt allgemein für das Erlernen und die Ausübung eines Berufs nach wie vor die "männliche Normalbiografie" als bestimmend, also die Vorstellung, dass jemand eine einmalige Berufswahlentscheidung trifft, eine vergütete betriebliche Ausbildung macht und dann bis zur Rente in diesem Beruf arbeitet. Diese gedankliche Eingrenzung, die nicht zuletzt mit der Durchsetzung von Interessen bestimmter Gruppen verbunden ist, führt zur Benachteiligung und Ausgrenzung anderer Gruppen.
Auch das Pandemiemanagement war und ist von solchen Bildern bestimmt: Die Maßnahmen passten für eine Familie, die ein Haus mit Garten besitzt, aus zwei gut Deutsch sprechenden Elternteilen besteht, die flexible Jobs und die Möglichkeit zum Homeoffice haben, über eine gute Bildung und bildungspädagogische Kompetenzen verfügen und ihren Kindern neben einer guten räumlichen auch eine digitale Ausstattung bieten können. Eine Familie, die gut eingebunden und in der Lage ist, Schwierigkeiten aus eigener Kraft zu bewältigen. Diese handlungsleitenden Bilder wie die auf ihnen basierenden Maßnahmen blenden und grenzen Menschen aus, deren Alltag, Lebenslagen und Lebenswelten in Deutschland anders aussehen. Darauf komme ich später zurück.
Studien zur Jugend in der Corona-Krise zeigen, dass junge Menschen sich übergangen fühlen, dass sie nicht gefragt, nicht informiert, nicht in Entscheidungen einbezogen wurden.
Zu denen, deren Interessen und Bedürfnisse weitgehend ausgeblendet wurden, gehören junge Menschen. Für sie war der Übergang von der Schule in den Beruf unter Corona- und Lockdown-Bedingungen eine große Belastung. Eine pädagogisch verstandene Berufsorientierung soll jungen Menschen die Gelegenheit geben, sich mit eigenen Interessen, Wünschen, mit eigenem Wissen und Können ebenso auseinander zu setzen wie mit den Möglichkeiten, Bedarfen und Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt. Vielfach war beides nicht möglich: viele Betriebe durften aufgrund des Kontaktverbotes keine Praktika durchführen, auch solche im sozialen Bereich. Viele Unternehmen oder Abteilungen blieben geschlossen, in anderen war die eigentliche Arbeit nicht möglich. Gut vernetzte Familien wie die oben geschilderte hatten vielleicht noch die Chance, den Kindern doch noch irgendeine Möglichkeit einer Berufsfelderkundung oder eines betrieblichen Praktikums zu ermöglichen. Wo ein Praktikum Pflicht blieb, mussten viele junge Menschen die Erfahrung machen, dass es dabei eher um die Erfüllung wenig sinnvoller formaler Anforderungen ging als um ihre Interessen, Wünsche, ihr Wissen und Können.
Jugendliche fürchten um ihre berufliche Zukunft
Auch ihre Ängste – vor einer Ansteckung, vor der Zukunft in dieser Arbeitswelt – blieben meist unberücksichtigt. Studien zur Jugend in der Corona-Krise zeigen, dass junge Menschen sich übergangen fühlen, dass sie nicht gefragt, nicht informiert, nicht in Entscheidungen einbezogen wurden. Sie kommen – wenn überhaupt – als Schülerinnen und Schüler vor. Viele Jugendliche und junge Erwachsene fühlen sich allein gelassen, verunsichert, einsam und psychisch belastet.(7) In der Konsequenz fürchtet – laut einer Bertelsmann-Studie – die Mehrheit der Jugendlichen um die eigene berufliche Zukunft, 73 Prozent sind unzufrieden damit, was der Staat für Ausbildungsplatzsuchende tut.(8)
Die IG-Metall-Jugendstudie Plan B(9) bestätigt diese Ergebnisse auch für junge Menschen in Ausbildung, Studium und am Beginn ihrer Berufstätigkeit im Pandemiewinter 2020/21. So klagen 61 Prozent der Befragten über eine verschlechterte psychische Gesundheit, 55 Prozent über beeinträchtige Freundschaften und 51 Prozent über das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben verloren zu haben. 39 Prozent der Befragten mussten ihre beruflichen Zukunftspläne zum Teil oder ganz ändern. Von den Auszubildenden geben 71 Prozent an, dass die Situation in der Berufsschule schlechter geworden sei, für 41 Prozent gilt das auch für die Ausbildungssituation im Betrieb. Fast die Hälfte fürchtet um ihre Übernahme. Diese Pandemiefolgen beeinträchtigen bei der Hälfte der Befragten die Motivation. Besonders kritisch erscheint der Blick auf die Qualität der Ausbildung: "Die Ergebnisse zeigen ein dramatisches Absinken der Ausbildungs- und Berufsschulqualität, das offenbar nicht durch moderne digitale Methoden aufgefangen wird."(10)
Zusammenfassend waren für den großen Teil einer gesamten Generation schulisch, beruflich wie privat alterstypische Entwicklungsaufgaben nicht oder nicht angemessen möglich; Frei- und Experimentierräume fehlten ebenso wie anregende Lernumgebungen, die es ermöglichen, sich selbst aktiv und interaktiv zu erproben und Kompetenzen zu entwickeln. Viele machten die Erfahrung von Nachrangigkeit, starrer und unverständlicher Regeltreue und von eigener Ohnmacht.
Verstärkung der Sozialen Ungleichheit
Zu der von vielen Jugendlichen empfundenen Ungerechtigkeit in Bezug auf Bildungschancen, Wahrnehmung ihrer Interessen und Mitbestimmung kommen für junge Menschen mit ungünstigeren Voraussetzungen die Erfahrungen einer gesteigerten sozialen Ungleichheit. Aus der Schuldebatte wissen wir, dass Armut, fehlende digitale Ausstattung und Mangel an ruhigen Arbeitsplätzen ebenso zu massiver Bildungsungleichheit beitragen wie die Tatsache, dass Deutsch als in der Familie gesprochene Sprache, Literalität, schulisches Wissen der Eltern und deren Kompetenz zur Unterstützung ihrer Kinder vorausgesetzt werden. Bildungserfolge und Teilhabe werden zusätzlich eingeschränkt durch die Tatsache, dass in die Zeugnisnoten Leistungsnachweise des "Homeschooling" einbezogen werden.(11) Eine Studie der Universität Paderborn belegt die größten Belastungen in Familien mit Migrationshintergrund und geringem Bildungsgrad der Eltern.(12)
Für das Homeschooling sind nicht alle Familien gleich gut gerüstet. Bild: fizkes/
Adobe StockEin erheblicher Belastungsfaktor der Familien sind finanzielle Sorgen. Befragungen des ifo Instituts zeigen, dass die Krise vor allem einkommensschwache Familien trifft, die schon vorher Probleme hatten: "Besonders betroffen sind Familien unterhalb der Armutsgrenze, Familien mit nur einem berufstätigen Elternteil und Eltern, die nicht im Homeoffice arbeiten können."(13)
Auch am Arbeits- und Ausbildungsmarkt sind die Risiken der Krise sehr ungleich verteilt – sie spiegeln und steigern die bestehende soziale Ungleichheit. IAB-Forschungsergebnisse zu den Folgen der Corona-Krise am Arbeitsmarkt weisen darauf hin, dass Personen mit Migrationshintergrund deutlich stärker von der Krise betroffen sind als Deutsche, und dass es Staatsangehörige aus den Asylherkunftsländern besonders stark trifft, vor allem Frauen.
Welche Perspektiven zeichnen sich ab?
Das Berliner Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) hat sich in einer Studie mit der Frage beschäftigt, ob es angesichts der dargestellten Probleme eine "Corona-Generation" geben wird, die nur eine geringe Chance auf einen erfolgreichen Übergang in Ausbildung hat.(14)
Dieter Dohmen, Klaus Hurrelmann und Galiya Yelubayeva räumen zunächst mit dem Narrativ auf, Abiturientinnen und Abiturienten hätten kein Interesse an einer dualen Ausbildung. Im Gegenteil, dass das Ausbildungssystem trotz der zurückgehenden Zahl von Ausbildungsverträgen stabil geblieben sei, führen sie auf diese zurück: "Es sind fast ausschließlich Ausbildungsplätze, die mit Abiturient/innen besetzt wurden, für die Stabilisierung verantwortlich. Abiturient/innen machen nicht nur einen höheren Anteil an allen neuen Ausbildungsverträgen aus, sondern es steigt auch der Anteil der Abiturient/innen, die im Anschluss an das Abitur eine duale Ausbildung absolvieren. Stattdessen sinken die Übergangschancen in duale Ausbildung für Jugendliche ohne Abitur, und explizit auch für Jugendliche, die einen Realschulabschluss haben."(15)
Eine düstere Perspektive aus Verharren im Übergangsbereich, gering qualifizierter Beschäftigung und häufiger Arbeitslosigkeit sehen sie für die "Jugendlichen der unteren Schichten, mit oder ohne Migrationsgeschichte, deren Eltern selbst bereits häufig keine Ausbildung haben und/oder oft arbeitslos sind. Diese Jugendlichen haben überproportional häufig eine geringe Schulbildung, keine abgeschlossene Ausbildung und sind zu einem Viertel arbeitslos oder nicht erwerbstätig." Als zweite Gruppe nennen sie Jugendliche mit Migrationshintergrund, insbesondere ohne deutschen Pass, auch wenn sie nicht aus bildungsfernen Familien stammen, denn Schule sei offensichtlich nicht in der Lage, diese Gruppe so zu unterstützen, dass sie gute Schulleistungen erreichen. Die schon bisher geringen Ausbildungschancen dieser Gruppen verschlechterten sich weiter, da das duale System kleiner werde.
Die bereits Benachteiligten werden noch weiter abgeschnitten – von Informationen, digitaler und gesellschaftlicher Teilhabe und Lebenschancen.
Dass die Forscherinnen und Forscher nicht von einer Corona-Generation sprechen wollen, hat damit zu tun, dass die meisten der Jugendlichen auch ohne die Corona-Krise wenig Aussichten auf einen Ausbildungsplatz hatten. Aber: "Ihre Chancen werden sich auch deshalb weiter verschlechtern, weil sie während der Zeit der Schulschließungen durch das Raster gefallen sind, weil sie kein Endgerät hatten oder aber dieses mit Geschwistern oder Eltern teilen mussten, zudem oft weniger lernmotiviert sind und unter Umständen mehr Zeit im Internet mit Spielen verbracht haben." Da für junge Frauen das schulische Ausbildungssystem noch eher in Frage komme, seien von dieser Entwicklung vor allem junge Männer betroffen. Die Krise unter dem Brennglas zeige sich hier deutlich, denn die Corona-Pandemie verschärfte bestehende Schieflagen am Übergang Schule – Ausbildung.(16)
Eine weitere Perspektive ist die der wachsenden digitalen Ungleichheit. Hier zeichnet sich die Gefahr ab, dass diejenigen, die über gute Bildung, gute Finanzen, Netzwerke, technische Ausstattung und Kompetenz verfügen, auch in Bezug auf Teilhabe profitieren. Die bereits Benachteiligten werden dagegen noch weiter abgeschnitten – von Informationen, digitaler und gesellschaftlicher Teilhabe und Lebenschancen.(17)
Auf welche Erkenntnisse können wir zurückgreifen?
Wie deutet ein junger Mensch in einer solchen Lebenssituation sein Leben, die Gesellschaft, seine berufliche Zukunft? Wie können Jugendliche unter den gegenwärtigen Umständen lernen, sich als handlungskompetent zu erleben, die Fähigkeit zu erwerben und sich gefragt fühlen, die eigene Biografie zu gestalten, motiviert sein, Demokratie und Zivilgesellschaft weiterzuentwickeln?
Antworten darauf sind nicht neu, hier kann eine Rückbesinnung auf sozialpädagogische Konzepte richtungsweisend sein. Die Sozialpädagogik entstand (nach Reyer)(18) in der Krise der Industrialisierung, sie nahm – anders als die Individualpädagogik – auch gesellschaftliche Verhältnisse und soziale Probleme in den Blick, denen sie Kritik und neue Ideen, zum Beispiel in Familie, Schule oder Berufsausbildung entgegensetzt. Sozialpädagogik entwickelte sich "als das erzieherische Element jener Sozialpolitik, die als Begleiterscheinung der Hochindustrialisierung notwendig wurde, gleichsam als Antwort auf Schäden und Leiden, die die moderne Gesellschaft dem einzelnen Menschen zufügt."(19)
Als nach der 68er Studentenbewegung auch Jugendhilfe stärker mit politischer Bildung, mit dem Ziel der Emanzipation und mit einer Anwaltschaft für benachteiligte Jugendliche verbunden wurde, entstand in den 80er Jahren die sozialpädagogisch orientierte Berufsausbildung, bekannter als Benachteiligtenförderung. Sie verband Berufs- und Sozialpädagogik. Das sozialpädagogisch orientierte Konzept basierte unter anderem auf dem Prinzip der Lebenswelt- beziehungsweise Alltagsorientierung von Hans Thiersch. Mit dem Konzept der Lebensweltorientierung soll ein Zugang zum Alltag, zur Lebenswirklichkeit der Jugendlichen geschaffen werden. Es zielt darauf, "Protestpotenzial und die Möglichkeiten einer glücklicheren Lebensbewältigung in den Gegensätzen und Widersprüchen des Alltags hervorzubringen".(20) Alltag ist dabei durch drei Dimensionen gekennzeichnet: die erfahrene Zeit, den erfahrenen Raum, die erfahrenen sozialen Beziehungen.
In Bezug auf die Corona-Krise lassen sich aktuelle Fragen daraus ableiten:
- Wie haben junge Menschen die Zeit der Corona-Krise erlebt? Wie fügt sich diese Erfahrung in ihre biografischen Stationen ein? Wie wirkt sie sich auf die Zukunft aus, auf die Aufgaben, die eigene Identität zu entwickeln und die Biografie zu gestalten? Wo gibt es für sie noch Orientierung, wo sind Ängste und Verunsicherungen aufgetreten?
- Was bedeutet es, dass jungen Menschen Räume für ihre Entwicklung – wie Freundeskreis, Arbeit, Schule, Freizeitgruppen – verwehrt waren, dass die Lebenswelt sich vielfach auf die Familie beschränkte? Wie können Bezüge zu Arbeit und Beruf entstehen, wenn sinnliche Eindrücke (Wie riecht es in einer Werkstatt? Wie fühlt sich die hektische Enge und Hitze einer Großküche an?), soziale Situationen (im Umgang mit Kundinnen und Kunden oder Vorgesetzten), das Eintauchen in die Kulturen von Branchen und Berufen (ihre Geschichten, ihr Auftreten, ihr Miteinander) ausfallen?
- Wie wirkt sich der Mangel an erfahrenen sozialen Beziehungen aus, zum Beispiel die eingeschränkten jugendtypischen Bedürfnisse, Freundschaften zu pflegen, neue aufzubauen, aber auch die fehlenden Möglichkeiten, bei der Bewältigung von Krisen auf Netzwerke, aber auch institutionelle Angebote wie außerschulische Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit zurückzugreifen?
Der Übergang Schule – Beruf wird in der Corona-Krise noch mehr zum Hürdenlauf. Bild: synto/
Adobe StockKritische Stimmen aus der Sozialen Arbeit weisen zudem darauf hin, dass die Corona-Krise als gesellschaftspädagogisches Experiment mit kritischen Implikationen gesehen werden kann, in der mit Angst, sozialer Distanzierung, digitaler Kommunikation und Kontrolle des Bewegungsraums kollektive Verhaltensänderungen erreicht wurden. Diese radikal veränderte und über die Pandemie hinausreichende Sozialisation hat erhebliche Auswirkungen auf die zwischenmenschlichen, insbesondere intergenerativen Beziehungen, vor allem aber auf die Entwicklung des Selbst und die Verortung im Leben beziehungsweise in der Welt. Insbesondere kritisieren Kniffki, Lutz und Steinhaußen, "dass die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen seit Beginn der Krisenbewältigungsmaßnahmen mit autoritären und entmündigenden Mechanismen durchsetzt ist, welche auf der Schockstrategie beruhen." Diese setzten das Denk- und Urteilsvermögen außer Kraft, so dass Menschen verführbar würden. Ihr Denken, Fühlen und Handeln werde Normierungen unterworfen, die die Entwicklung ihrer Mündigkeit gefährden.(21)
Mögliche Antworten und Lösungsansätze
Was heißt das aber für die aktuelle Situation von Jugendlichen in der Krise der Berufsorientierung? Schaut man in die Praxis, stehen die Information und die Digitalisierung ganz oben auf der Liste der Lösungsansätze. Dazu zählt einerseits die Erkenntnis, dass die Corona-Pandemie der Digitalisierung einen (dringend notwendigen) Schub versetzt hat. Ein erster Lösungsvorschlag besteht darin, weitere digitale Plattformen einzurichten, die die Berufsorientierung unterstützen. Die Idee basiert zum einen auf der Annahme, dass ein Mangel beim Vorhandensein von Informationen besteht. Dazu hat die Bertelsmann-Studie junge Menschen befragt: Aus ihrer Sicht mangelt es nicht an Informationen zur Berufswahl, es sei allerdings eine Herausforderung, sich damit zurechtzufinden. Diese Orientierungsprobleme werden sogar größer, je höher die Schulform ist. Es geht also nicht um die Menge der Informationen, sondern um Struktur, Systematisierung oder Hilfe beim Umgang damit.(22) So stellt eine KOFA-Studie fest, dass vor der Corona-Krise lediglich 27,6 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler bereits digitale Angebote zur Berufsinformation genutzt hatten.(23)
Schaut man in die Praxis, stehen die Information und die Digitalisierung ganz oben auf der Liste der Lösungsansätze.
Eine zweite Annahme geht davon aus, dass Berufsorientierung überwiegend über Informationsvermittlung funktionieren kann. Diese Annahme kann zum Beispiel anhand des Thüringer Berufsorientierungsmodells (ThüBoM) überprüft und widerlegt werden. Das ThüBoM versteht Berufsorientierung als Phasenmodell, in dem Jugendliche sich zunächst einstimmen, das heißt mit eigenen Interessen, Fähigkeiten und Werten beschäftigen und Selbststeuerungskompetenzen entwickeln. Darauf baut die Erkundungsphase auf, in der konkrete Erfahrungen in der Arbeitswelt ermöglicht werden. Diese Erfahrungen motivieren die Jugendlichen, zielgerichtet nach Informationen zu suchen, die zu eigenen Interessen und ersten Erfahrungen passen.(24) Das Modell betont, dass neben dem Wissen – das auch Selbstwissen umfasst – auch die Motivation, zum Beispiel Betroffenheit, Eigenverantwortung, Offenheit und Zuversicht und die eigene Handlung wichtige Dimensionen der Berufsorientierung bilden.(25)
Vernachlässigt werden bei einem Schwerpunkt auf digitalen Informationen zudem zentrale Aspekte des Erlebens und die Bildung einer eigenen beruflichen Identität. Berufspädagogische Theorien wie die Communities of Practice nach Lave und Wenger(26) weisen auf die enorme Bedeutung des sozialen Lernens hin: auf die Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt, auf die Bedeutungen, die ein Mensch in der Praxis und der mit ihr verbundenen Gemeinschaft erfährt. Die Erfahrungen in der Praxisgemeinschaft, ihre Diskurse, Bilder und Geschichten tragen zur Entwicklung von Identität bei. So verstehen Lave und Wenger Lernen auch als Handeln, Zugehören, Erleben und Werden.
Auf den Punkt gebracht müssen Aspekte wie die individuelle Entwicklung, die motivierende Auseinandersetzung mit der Praxis und das soziale Lernen ebenso wie gesellschaftspädagogische Fragen in zukünftigen Konzepten unbedingt wieder beachtet werden. Dies gilt umso mehr, als diese Aspekte in der Corona-Pandemie in entwicklungsgefährdendem Maße zu kurz gekommen sind.
Die Digitalisierung – Anforderung oder Entwicklungschance?
Die Corona-Krise hat deutlich gezeigt, dass nicht nur in der Schule, sondern auch in der beruflichen Bildung ein erheblicher Investitions- und Qualifizierungsbedarf besteht. Im aktuellen Diskurs der beruflichen Bildung geht es deshalb häufig darum, junge Menschen und Bildungsinstitutionen mit digitalen Endgeräten auszustatten und beide Seiten so zu qualifizieren, dass sie mit der neuen Technik zurechtkommen.(27) Der sichere Umgang mit Computer- und Informationstechnik steht auch in der Berufsbildung an erster Stelle.
Wenn alles einfach zu schnell geht: nicht wenige Jugendliche sind mit der Digitalisierung überfordert. Bild: BOOCYS/
Adobe StockNur von den Anforderungen an die Individuen auszugehen, könnte angesichts der digitalen sozialen Ungleichheit die Digitalisierung zu einem neuen gesellschaftspädagogischen Experiment mit kritischen Implikationen machen. Für Jugendliche mit ungünstigen Voraussetzungen ist die Digitalisierung vielfach mit Erfahrungen von Abgehängtsein, Überforderung, Unsicherheit und Angst verbunden. Da ihre subjektive Situation nicht zu den Anforderungen passt, wächst die Gefahr des "Abtauchens", des drop-outs.(28) Andererseits sind in der Corona-Krise viele Kompetenzen deutlich geworden, die wertgeschätzt und berücksichtigt werden sollten: Viele Jugendliche haben sich als kompetent, ja als kompetenter erlebt als ihre Lehrkräfte, haben "auf Augenhöhe" gemeinsam mit ihnen neue Lehr- und Lehrformen entwickelt. Andere haben erlebt, dass sie viel erfolgreicher und motivierter lernen, wenn sie in Ruhe arbeiten, Lernzeitpunkte, Lernstoffe und Lernorganisation selbst bestimmen können – und gegebenenfalls zwischendurch spazieren gehen und in der Natur "auftanken".
Einen Gegenpol zu anforderungsorientierten Konzepten bilden sogenannte subjektorientierte Ansätze – ihr Schwerpunkt liegt bei der Person und ihrer Entwicklung. Was Subjektorientierung für die Berufsorientierung heißt, haben Sven Deeken und Bert Butz in der Einleitung ihrer Handreichung "Berufsorientierung – Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung" so beschrieben: "Ziel ist die Darstellung und konzeptionelle Verortung von Berufsorientierungsansätzen, die von den individuellen Voraussetzungen und Entwicklungsprozessen der Jugendlichen ausgehen, diese mit den objektiven Voraussetzungen der Berufs- und Arbeitswelt verknüpfen und daraus komplexe integrative Angebote entwickeln. Die vorzustellenden Ansätze einer subjektbezogenen, also von der Persönlichkeit ausgehenden Berufsorientierung nehmen die Jugendlichen in ihrem sozialen Kontext wahr und machen sie zum Ausgangspunkt komplexer lebensweltorientierter Angebote."(29)
Möglichkeiten digitaler Konzepte
Wie kann ein vom Menschen ausgehendes digitales Konzept aussehen, wie ein soziales Verständnis von Digitalisierung?(30) Diesen Herausforderungen stellt sich zum Beispiel die "digitale Lernfabrik", die im Kontext der BAG KJS entwickelt wurde. Diese pädagogische Konzeption ist langfristig angelegt, sie geht über die Ebene der Technologie hinaus, nimmt Mensch-Technik-Interaktionen und die Veränderung der Gesellschaft mit in den Blick. Das Projekt entwickelt pädagogische Ziele, die über die aktuelle Technologie hinausreichen. Es sollen Bildungs- und Erlebnisräume geschaffen werden, die kreatives Denken und Handeln fördern. Dies geschieht unter anderem durch "praxisorientierte Berufserlebniswelten".(31) Die intrinsische Motivation der jungen Menschen soll geweckt werden, zudem ihre Auseinandersetzung mit eigenen Kompetenzen und Berufswünschen. Hier ist die digitale Ausstattung nur Mittel zum Zweck. Verschiedene Gruppen, unter anderem Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrkräfte, aber auch Wissenschaft und Praxis werden auf einer "Explore Base" (übersetzt etwa: Ausgangspunkt für Entdeckungen und Erfahrungen) vernetzt, so dass Netzwerkkompetenzen und die Partizipation in einer digitalen Gesellschaft gestärkt werden.(32)
Pädagogische Fachkräfte bieten Beziehung an, schaffen auch in "digital durchdrungenen Lebenswelten" Möglichkeiten, Neues zu entdecken, zu reflektieren, sensibel zu werden, sich kritisch auseinanderzusetzen, Orientierung zu bekommen.
Als zentrales Element für digitale Konzepte nennen Susanne Nowak und Michael Herkendell die Haltung der Fachkräfte. Sie bieten Beziehung an, schaffen auch in "digital durchdrungenen Lebenswelten" Möglichkeiten, Neues zu entdecken, zu reflektieren, sensibel zu werden, sich kritisch auseinanderzusetzen, Orientierung zu bekommen.
Ist das nun schon die Antwort? Nein, aber ein wichtiger Beitrag dazu, wie Digitalisierungskonzepte Jugendliche abholen und ihnen in vielfacher Weise gerecht werden können. Die Herausforderungen für die berufliche Bildung gehen weit über die Digitalisierung hinaus, aber viele hier deutlich gewordene Anstöße können auch in anderen Bereichen handlungsleitend sein, indem sie im Sinne der Sozialpädagogik die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick nehmen, von den Jugendlichen, ihren Lebenslagen und Deutungen ausgehen und sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung, ihrer Kompetenzentwicklung, ihrer Emanzipation und Urteilskraft stärken.
Was kommt nach Corona? Wenn es gelingt, Jugendlichen zuzuhören, sie zu verstehen, sie ernst zu nehmen und bei allen Maßnahmen und Entscheidungen aktiv zu beteiligen, dann ermöglichen wir es jungen Menschen, optimistisch, selbstbewusst, mündig und motiviert ihre Biografie, die Arbeitswelt und die Gesellschaft entscheidend mitzugestalten. Ein lohnendes Ziel – und zudem alternativlos.