24.04.2025

Chancen schaffen für den ersten Arbeitsmarkt

Das Kölner Modellprojekt "Ausbildung mittendrin"

von Nils Strodtkötter

Junge Menschen, die eine inklusive Schule oder eine Förderschule besucht haben, haben es oft schwer, den Weg auf den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen. Die meisten wechseln von der Schule in die Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Dies wollten einige Eltern junger Menschen mit so genannter geistiger Behinderung nicht hinnehmen. Sie gründeten das Kölner Modellprojekt "Ausbildung mittendrin", das solche Jugendliche seit 2022 auf ihrem Weg in eine und durch eine duale Ausbildung begleitet. Diese Arbeit des Projektes folgt einem bundesweit neuartigen Ansatz.

NRW-Bildungsministerin Dorothee Feller besucht einen Ausbildungsbetrieb: die Jugendherberge Köln-Riehl - Bild: Lingscheid/ mittendrin e.V.

Menschen mit Behinderung haben es schwer auf dem Arbeitsmarkt. Trotz oft hoher Motivation, guter Qualifizierung und zahlreicher Initiativen sowie gesetzlicher Förderungen ist die Erwerbsquote von Menschen mit Behinderung deutlich niedriger als diejenige von Personen ohne Behinderung. Für Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung ist die Ausgangslage jedoch noch deutlich schwieriger. So konnten laut dem Landschaftsverband Rheinland (LVR) nach dem Schuljahr 2021/22 nur drei Prozent der Schülerinnen und Schüler mit einer geistigen Behinderung aus dem Bildungsgang "Geistige Entwicklung" in den Förderschulen in einen regulären Arbeitsplatz übergehen. Für den Großteil dieser Personengruppe bleibt nur eine Tätigkeit in einer Behindertenwerkstatt oder die Arbeitslosigkeit. Eine duale Ausbildung beginnen? Als wertvolles Teammitglied einen Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens leisten? Für diese Menschen ein fast unmöglicher Traum. Das wollten betroffene Eltern ändern. Sie starteten mit dem Kölner Verein "mittendrin e. V." das Projekt "Ausbildung mittendrin".

Geistige Behinderung?In diesem Praxisbericht ist von jungen Menschen "mit so genannter geistiger Behinderung" die Rede. Darin liegt eine Distanzierung, die auf den allgemein üblichen Sprachgebrauch Bezug nimmt. Neuerdings wird versucht, stattdessen die Formulierung "Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen" zu etablieren, einer neutraleren Bezeichnung, die sich aber noch nicht durchgesetzt hat. Aus diesem Grund bleiben wir bei der gebräuchlicheren Benennung, sind uns aber bewusst, dass sie nicht für alle Zeit so bleiben kann und sollte.

Eltern schaffen Inklusion

Im Jahr 2006 gründeten Eltern von Kindern mit einer geistigen Beeinträchtigung den Verein "mittendrin e. V.". Sie wünschten sich für ihre Kinder ein Leben mittendrin – inmitten der Gesellschaft am eigenen Wohnort, inmitten Gleichaltriger in einer allgemeinen Schule. Als Elternverein betreibt mittendrin e. V. seitdem nicht nur eine Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung und setzt sich in Verwaltung und Politik für Inklusion ein. Er bietet darüber hinaus konkrete Inklusionsprojekte und -angebote in den Bereichen Freizeit, Kultur und Bildung an. So soll den Kindern und Jugendlichen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden. Oft entstehen die Projekte aus konkreten Bedürfnissen heraus – so wie "Ausbildung mittendrin". Im Jahr 2017 kamen Eltern von jungen Menschen mit einer geistigen Behinderung im Verein zusammen. Sie waren frustriert: Nachdem sie jahrelang um inklusive Bildung gekämpft hatten, blieb ihren Kindern nach der Beendigung ihrer Schulpflicht auch wieder nur eine Option am Rande der Gesellschaft – die Behindertenwerkstatt. Denn eine berufliche Bildung wird diesen jungen Menschen meist nur im Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung ermöglicht.

Ein Weg tut sich auf

Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM)
Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) bieten Menschen mit einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung die Möglichkeit der Teilhabe am Arbeitsleben. In einem geschützten Rahmen können sie eine für sich passende berufliche Tätigkeit erlernen und ausüben. Im Rahmen eines Werkstattvertrags können die Mitarbeitenden einer Werkstatt auch auf einem Außenarbeitsplatz tätig werden. Das ist eine spezielle Form der Beschäftigung, die es Menschen mit Behinderung ermöglicht, außerhalb der Werkstatt in regulären Unternehmen zu arbeiten. Hierbei werden sie von der Werkstatt unterstützt und begleitet, um eine Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu fördern. Außenarbeitsplätze bieten den Vorteil, dass die Teilnehmenden praktische Erfahrungen sammeln, ihre beruflichen Fähigkeiten erweitern und gleichzeitig in einem inklusiven Umfeld arbeiten können. Die jungen Menschen bleiben in diesem Fall aber rechtlich weiter Werkstattbeschäftigte.

Viele der Betroffenen aber wollten mehr. Sie wollten weiter lernen, berichtet Eva Thoms, Mitgründerin und erste Vorsitzende von mittendrin e. V.: "Die jungen Leute, die aus der Schule rauskamen, waren frustriert und beklagten sich: ‚Ich lerne ja nichts mehr‘. Wenn eine Zielgruppe, bei der wir immer davon ausgehen, dass ihr Lernvermögen sehr eingeschränkt ist, von sich aus ein Lernbedürfnis artikuliert, aber dafür keine Angebote bekommt, ist das bedauerlich."

Auf der Suche nach Möglichkeiten schauten sich die betroffenen Familien schließlich an, welche Wege ein junger nicht behinderter Mensch nach der Schule einschlagen kann, wenn er nicht studieren möchte. So kam die duale Ausbildung in ihr Blickfeld. Dafür aber benötigt man etwas, was die Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung meist nicht vorweisen können – einen Schulabschluss. Oder? Nein, stellten die Eltern nach genauer Recherche fest. In Deutschland ist laut Gesetzgeber kein Schulabschluss nötig, um eine Ausbildung zu beginnen. Es liegt allein in der Entscheidung eines Unternehmens, einem Menschen ohne Abschluss eine Ausbildung anzubieten oder nicht. Und wenn dieser dann einen Ausbildungsvertrag unterschrieben hat, muss er auch eine Berufsschule besuchen. Die steht wiederum in der Pflicht, alle Auszubildenden mit Ausbildungsvertrag anzunehmen. Etwas weiteres Wichtiges passierte: Die Eltern stießen auf einen Passus in der Ausbildungsordnung "Sonderpädagogische Förderung des Landes Nordrhein-Westfalen", der sie erstaunte. Schülerinnen und Schüler aus dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung haben das Anrecht auf sonderpädagogische Förderung in den Fachklassen der Berufsschule. In dieser Verordnung war also schon vorgesehen, worum sich das Projekt "Ausbildung mittendrin" schließlich kümmern sollte.

Ein möglicher Weg war nun gefunden, ebenso fand sich schnell Unterstützung durch Wirtschaft und Politik. Was noch fehlte: die finanzielle Förderung und ein Partner für die operative Arbeit des Projekts, eben diese sonderpädagogische Unterstützung der Teilnehmenden. Denn die kann mittendrin e.V. als reiner Elternverein nicht selbst leisten. Glücklicherweise gibt es in Köln ein gemeinnütziges Unternehmen, das genau diese Arbeit verrichtet – die ProjektRouter gGmbH bietet seit 2004 Inklusionsdienstleistungen an. Mit ihr fand "mittendrin e.V." den perfekten Partner, um das Projekt "Ausbildung mittendrin" schließlich aus der Taufe heben zu können. Bis man schließlich die Förderung erhielt, gingen aber noch fünf Jahre ins Land.

Ein Projekt wird mit Leben gefüllt

ProjektRouter
Die ProjektRouter gGmbH ist ein Kölner Inklusionsdienstleistungsunternehmen. Seit seiner Gründung 2004 unterstützt es durch maßgeschneiderte Coaching- und Bildungsangebote arbeitsuchende Menschen mit Behinderung darin, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachhaltig Fuß zu fassen. Gleichzeitig erhalten Unternehmen Unterstützung beim Aufbau inklusiver Strukturen. Wichtigstes Werkzeug: Inklusionscoachs, die den Menschen mit Behinderung und auch den Arbeitgebern direkt am Arbeitsplatz beratend und vermittelnd zur Seite stehen und gleichzeitig eine umfassende Unterstützung in der beruflichen Ausbildung bieten, einschließlich Nachhilfe und Prüfungsvorbereitung. Das Unternehmen arbeitet zudem eng mit Werkstätten und Unternehmen zusammen, um individuelle Außenarbeitsplätze zu schaffen, die den Bedürfnissen der Arbeitnehmenden gerecht werden.

Im Mai 2022 konnte das Projekt Ausbildung mittendrin mit Förderung vom Land NRW und dem Europäischen Sozialfonds endlich starten und jungen Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung ermöglichen, dort zu lernen und zu arbeiten, "wo auch alle anderen lernen und arbeiten", wie es der Verein in seiner Broschüre betont.

In einem ersten Schritt gehen mittendrin e. V. und ProjektRouter auf die Suche nach motivierten Kandidatinnen und Kandidaten, die sich der Herausforderung Ausbildung stellen möchten und die folgenden Kriterien erfüllen: Sie müssen ihren Wohnsitz in Köln haben, einen Schwerbehindertenausweis besitzen und den Bildungsgang Geistige Entwicklung absolviert haben. Das Team von Ausbildung mittendrin bietet dafür Infoabende an, besucht Schulen, wendet sich ans Schulamt und an die Stadt Köln, kontaktiert Werksstätten und Förderschulen. Zudem macht es das Projekt durch Zeitungsartikel und Fernsehbeiträge einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Auch über ProjektRouter finden sich junge Menschen, die schon durch den Inklusionsdienstleister betreut werden und nun eine duale Ausbildung starten möchten.

Inklusionscoach Fabian Kempf und Fachpraktiker-Azubi im Verkauf bei Rewe - Bild: Lingscheid/ mittendrin e.V.

Die Akquise der Unternehmen ist dank der schon bestehenden zahlreichen Unternehmenskooperationen von ProjektRouter eine leichte Aufgabe. Denn diese Unternehmen wissen bereits aus Erfahrung, welch hohen Mehrwert Menschen mit Behinderung in ihren Betrieb einbringen können, freut sich Dr. Michael Bader, Bereichskoordinator von ProjektRouter: "Alle Unternehmen sagen immer, die Personen, die wir da reinbringen, sind weniger krank, zuverlässiger, motivierter, kommen gern zur Arbeit und haben eine hohe Identifikation mit dem Unternehmen." Aber auch die Betriebe selbst müssen Engagement mitbringen: Ausdauer und eine realistische Vorstellung davon, was ein Azubi mit Behinderung leisten kann, sind bei der Inklusion dieser Menschen unbedingt erforderlich.

Auf die richtige Passung kommt es an

Wie aber kommen nun die einzelnen Bewerberinnen und Bewerber mit einem passenden Unternehmen zusammen? Und wie finden die angehenden Azubis überhaupt erst einmal heraus, welche Ausbildung in welchem Unternehmen sie gerne machen möchten? Da das nötige Förderinstrument fehlt, ist eine sinnvolle, sonderpädagogisch unterstützte berufliche Orientierung in Form eines Berufsorientierungslehrgangs oder eines Praktikums für sie leider nicht möglich.

Dennoch sei es das Ziel, den Menschen zu ermöglichen, einen Beruf nach ihren Neigungen und Talenten zu ergreifen, betont Eva Thoms. Es bleibt der Weg über einen Werkstattvertrag. Das bedeutet: Die jungen Menschen gehen einen Vertrag mit einer Werkstatt für Behinderte ein und arbeiten dort direkt auf Außenarbeitsplätzen. So können sie sich die jeweilige Tätigkeit und den Betrieb genauer ansehen – und schließlich, wenn ihnen beides gefällt, das Unternehmen um einen Ausbildungsvertrag bitten.

Im Bereich Einzelhandel klappt das Matching zwischen Azubi und Unternehmen besonders gut. Denn hier trifft ein hoher Personalbedarf – und somit eine besondere Offenheit gegenüber neuen Lösungen – auf das Interesse vieler Menschen mit geistiger Behinderung, im Verkauf tätig zu sein: "Viele der Menschen kennen das aus ihrem privaten Leben. Sie gehen einkaufen und sehen dort die Menschen, die diesen Beruf ausüben. Für sie ist daher der Gedanke spannend, selbst in diesem Bereich zu arbeiten und sichtbar zu sein, nach außen zu zeigen, dass sie dort zugehörig sind. Das spielt eine große Rolle. Denn es ist eine ganz neue Erfahrung, die sie lange in ihrem Leben vermisst haben", berichtet Eva Thoms.

Diese günstige Gelegenheit hat auch die Rewe Group erkannt, freut sich Dr. Michael Bader: "Der Inklusionsverantwortliche bei Rewe hat schon in vielen Bereichen mit uns zusammengearbeitet und denkt das Thema Inklusion immer mit." Deshalb bietet Rewe im Rahmen von Ausbildung mittendrin inzwischen die Ausbildung "Fachpraktikerin/Fachpraktiker im Verkauf" an, auf die sich junge Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung ohne Umwege direkt bewerben können.

Über die eigenen Grenzen hinauswachsen – dank der Inklusionscoachs

Für ihren Schritt in eine Ausbildung brauchen die jungen Menschen mit geistiger Behinderung trotz aller Unterstützung aber auch viel Mut, denn sie treten damit aus dem geschützten Raum der Unterstützungssysteme wie Werkstatt und Grundsicherung vorerst heraus, wie Eva Thoms betont: "Wir machen den Familien immer klar, dass die Unterschrift unter den Ausbildungsvertrag der Sprung aus dem Schonraum in den Dschungel ist. Das muss man wollen, und das muss man sich trauen. Obwohl es immer ein Rückkehrrecht gibt."

Mit dem unterschriebenen Vertrag sind die Voraussetzungen schließlich erfüllt, um auch die berufsbegleitende Bildung inklusive sonderpädagogischer Förderung zu erhalten. Diese wird seit 2022 im "Budget für Ausbildung" nach § 61a SGB IX staatlich finanziert. Der Ausbildungsbetrieb bekommt also sämtliche Kosten erstattet. Und auch der Azubi erhält ein Budget, um die Begleitung und Unterstützung durch Inklusionscoachs auf dem Weg durch die Ausbildung zu finanzieren.

Bild: Fachpraktiker-Azubi bei Rewe - Lingscheid/ mittendrin e.V.

Diese Begleitung erfolgt durch die Inklusionscoachs von ProjektRouter, die die Azubis an bis zu 15 Stunden pro Woche sowohl in der Berufsschule als auch im Unternehmen unterstützen. Dort sollen Azubi und Betrieb zuerst einmal gemeinsam herausfinden, was ein Azubi leisten kann und was nicht, um so die für sie passenden Aufgaben zusammenzustellen. Im Laufe der Ausbildung soll die junge Person lernen, mit ihren Schwächen besser umzugehen, und gleichzeitig ihre Stärken erkennen und ausbauen. In der Praxis packt ein Inklusionscoach deswegen direkt mit an. Zum Beispiel im Fall eines jungen Mannes mit Autismus-Spektrum-Störung, der eine Ausbildung im Einzelhandel macht. Dieser hatte die Aufgabe, ein Regal mit Toilettenpapier und Küchenrollen zu bestücken. Dafür ging der Inklusionscoach mit ihm zuerst zum Regal. Hier bat der Coach den jungen Mann, zu überlegen, wie viele Einheiten aufgefüllt werden müssten. Gemeinsam machten sie dann als Erinnerungsstütze Fotos mit dem Smartphone und gingen anschließend ins Lager, um den Rollwagen mit den aufzufüllenden Waren zu bestücken. Die Fotos dienten dem Azubi als Hilfe, um zu prüfen, ob er den Wagen richtig beladen hatte. Mit dem vollen Rollwagen gingen beide wieder zurück ans Regal und füllten die Ware auf. Nebenbei unterstützte der Inklusionscoach den Azubi dabei, effektiv zu arbeiten – etwa den Rollwagen so zu platzieren, dass er die einzuräumende Ware griffbereit bei sich hatte, um unnötige Schritte und Mehrarbeit zu verhindern.

Durch die Arbeit der Inklusionscoachs ergibt sich auch ein Synergieeffekt: Andere Mitarbeitende lernen am Beispiel des Coachs, wie sie ihren Kollegen oder ihre Kollegin mit einer geistigen Beeinträchtigung optimal ins Arbeitsgeschehen einbinden können. Aber nicht nur das leisten die Inklusionscoachs. Auch die betrieblichen Ausbilderinnen und Ausbilder erhalten von ihnen Unterstützung darin, ihre Azubis im richtigen Maße zu fordern und zu fördern. Was kann man von ihnen erwarten und was nicht? Wie kann man sie darin unterstützen, ein vollwertiges Teammitglied zu werden?

Die Inklusionscoachs setzen sich mit ihnen zusammen und vermitteln ihnen Wissen über das jeweilige Behinderungsbild und Verständnis dafür, wie es sich auf die Arbeit der jungen Menschen auswirken kann. "Anders als etwa bei Personen mit einer Lernbehinderung kann es bei Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung sein, dass sie einen Arbeitsablauf beherrschen, nach dem Urlaub aber wieder vergessen haben. Damit das nicht zu Konflikten führt, ist es wichtig, dass Teamleiterinnen und andere Mitarbeitende durch entsprechende Schulungen auf solche Situationen vorbereitet sind", erklärt Michael Bader.

Teilnehmerin aus dem Fallbeispiel - Bild: Lingscheid/ mittendrin e.V.

In der Berufsschule benötigen die jungen Menschen Begleitung beim Erlernen der Ausbildungsinhalte. Oft müssen sie hierzu zunächst schulische Lücken schließen, berufspraktische Grundlagen erlernen oder auch einfach lernen zu lernen. Zudem bringen die Teilnehmenden unterschiedliche Lese- und Schreibfähigkeiten mit. Die Lehrkräfte wiederum benötigen Unterstützung darin, die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler zu verstehen und die Unterrichtsinhalte entsprechend zu präsentieren, weiß Dr. Michael Bader: "Die große Herausforderung ist, dass viele Menschen, auch in den Schulen, keine genaue Vorstellung davon haben, was eine geistige Behinderung ist. Sie verlangen dann beispielsweise, dass die Azubis nur vollständige Sätze schreiben. Es reicht ihnen nicht, wenn sie einfach nur ein paar Wörter in einer gewissen Reihenfolge anordnen."

Viele Lehrkräfte folgern aus solchen Aspekten, dass die Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung in einer Berufsschule restlos überfordert und dadurch unglücklich seien. Das solle man ihnen, so meinen sie, besser ersparen, berichtet Dr. Michael Bader – und stellt klar: "So nehmen die Auszubildenden das aber nicht wahr. Sie sind stolz, dass sie an den Berufsschulen in diesem Ausbildungsgang sind." Für viele sei es vielmehr das erste Mal in ihrer Bildungslaufbahn, dass sie die Erfahrung machen, dass ihnen jemand etwas zutraut, ergänzt Eva Thoms.

Ein Fallbeispiel

Wie wichtig die Unterstützung durch das Projekt Ausbildung mittendrin ist, um beruflich voranzukommen, zeigt das Beispiel einer 22-jährigen Auszubildenden. Die junge Frau startete 2022 als eine der ersten Teilnehmenden des Projekts. Zuvor hatte sie eine Förderschule besucht. Was sie dort jedoch nicht gelernt hatte, war, richtig zu lesen und zu schreiben, weil es ihr zum einen aufgrund ihrer Beeinträchtigung immer schwergefallen sei, berichtet Eva Thoms. Zum anderen habe sie von ihren Lehrkräften aber auch immer wieder zu hören bekommen: "Das ist zu schwer für dich, du musst das nicht lernen." Doch die 22-Jährige wollte es lernen. Also kümmerte sie sich im Anschluss an die Förderschule ganz eigenständig um einen Alphabetisierungskurs an der Volkhochschule. Zwei Jahre lang lernte sie Lesen und Schreiben.

Parallel dazu arbeitete sie zunächst in einer Werkstatt für behinderte Menschen, fand dann jedoch mit der Unterstützung von ProjektRouter einen Außenarbeitsplatz in einem Unternehmen. Da sie sich dort rundum wohlfühlte, fragte ihr Coach sie und den Betrieb, ob beide Interesse daran hätten, das bestehende Arbeitsverhältnis in eine Ausbildung umzuwandeln. So startete die junge Frau im Sommer 2022 schließlich ihre zweijährige Ausbildung zur Fachkraft für Gastronomie, Schwerpunkt Restaurantservice. Obwohl die Ausbildung der jungen Auszubildenden viel Freude bereitet, ist die Herausforderung, sie erfolgreich abzuschließen, für sie enorm: Die Kammerprüfung zum Abschluss der Ausbildung im vergangenen Jahr bestand sie nicht. Ihr Wille ist aber nach wie vor stark. Im Mai dieses Jahres möchte sie einen zweiten Anlauf nehmen. Und weil sie trotzdem mit ihren Leistungen und ihrem Engagement überzeugen konnte, haben die Verantwortlichen des Projekts schon jetzt zwei Arbeitsangebote für die Teilnehmerin, falls sie ihre Ausbildung nicht abschließen sollte.

Das Ziel ist gleichberechtigte Teilhabe

"Ausbildung mittendrin" war im Jahr 2022 mit zehn Teilnehmenden gestartet, von denen im ersten Jahr fünf in eine Ausbildung übergehen konnten, im zweiten Jahr eine Person. Im Jahr 2024 sind vier neue Ausbildungsverhältnisse entstanden. Eva Thoms erklärt: "Es ist Entwicklungsarbeit. Ständig bricht an irgendeiner Stelle ein Feuerchen aus." Auch bringen die jungen Menschen unterschiedliche Voraussetzungen mit und durchlaufen die Phasen im Projekt auf ihre ganz individuelle Weise. So gibt es Teilnehmende, die schon längere Zeit auf einem Außenarbeitsplatz arbeiten und sich nicht in Richtung Ausbildung entwickeln. Andere wiederum beschließen, doch erst einmal in der Werkstatt zu bleiben. Haben sie sich aber schließlich für eine Ausbildung entschieden, bleiben 90 Prozent dabei.

Auszubildende (Fachpraktikerin Verkauf) bei Primark - Bild: Lingscheid/ mittendrin e.V.

Diese Ausbildung dann schließlich abzuschließen, das ist gar nicht das erklärte Ziel des Projekts. Es geht vielmehr darum, dass den Menschen mit Beeinträchtigung die gleichen Türen offenstehen wie Gleichaltrigen ohne Beeinträchtigung, dass sie die Möglichkeit haben, im Rahmen einer dualen Ausbildung so weit zu gehen und so viel zu erlernen und zu leisten wie sie können und wollen. Im Kern geht es darum, dass sie gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, auch im Bereich der beruflichen Bildung. Eva Thoms zieht deshalb eine positive Bilanz: "Die jungen Leute fühlen sich wohl in der Ausbildung, sie machen unglaubliche Lernfortschritte. Wir haben mit bald zwei Ausbildungsabschlüssen und zahlreichen bestandenen Zwischenprüfungen Erfolge vorzuweisen, die spektakulär sind! Und die Betriebe sind zufrieden."

Bisher hat das Projekt "Ausbildung mittendrin" in Deutschland noch einen ganz besonderen Status. Das muss aber nicht so bleiben, betont Eva Thoms: "Das Vorhaben, auch junge Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung in Ausbildung zu bringen, ist bundesweit überall umsetzbar. Wir wenden einfach nur die bestehenden Regeln und Förderinstrumente an."

Für das Pionierprojekt läuft Ende 2026 die Förderung aus. Bis dahin, so die Hoffnung, hat Ausbildung mittendrin aber genau das bewirkt, wofür es ursprünglich gestartet worden ist: Dass bei den zuständigen Akteuren wie beispielsweise der Bundesagentur für Arbeit die Strukturen geschaffen werden, mit denen jedem Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung die Tür zu einer dualen Ausbildung offensteht.