22.12.2016

Wie war das noch mit dem Maßnahmendschungel?

Eine Retrospektive

von Walter Würfel

Unter dem Titel "Wege aus dem Maßnahmendschungel" hatte ich im Jahr 2009 einen Gastbeitrag im Good Practice Center (GPC) veröffentlicht, der sich mit der Situation von Jugendlichen beschäftigte, die nach dem Schulbesuch keine Ausbildungsstelle im Dualen System und auch keine weiterführende schulische Ausbildung fanden. Dabei ging es vor allem um die Fragmentierung der Förderangebote für diese Jugendlichen. Was hat sich seither geändert? Hat sich gar etwas verbessert?

Der Gastbeitrag von 2009 beschäftigte sich mit den unterschiedlichen Zuständigkeiten und den unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Förderlogiken der Programme und Institutionen, außerdem mit der Frage, wie man im Interesse der betreffenden Zielgruppen zu besseren, abgestimmten Lösungen kommen könnte. Vom heutigen Standpunkt aus kann man, glaube ich, sagen: es hat sich viel verändert und einiges verbessert.

Übergangsbereich halbiert

2005 war die Zahl derjenigen Jugendlichen, die in den Übergangssektor einmündeten, am größten, mehr als 500.000 Jugendliche und junge Erwachsene. Diese Zahl hat sich heute halbiert, das ist ohne Zweifel eine positive Entwicklung. Interessant ist die Argumentation der jeweiligen Akteure: Damals war die Rede davon, dass viele Jugendliche nicht ausbildungsreif wären, sie wurden mit einem Begriff stigmatisiert, der in keiner Weise definiert oder auch nur einheitlich verstanden wurde. Es wurde ein „Kriterienkatalog Ausbildungsreife“ erstellt, der Merkmale enthielt, die bei genauerer Betrachtung allerdings wenig Sinn machten, abgesehen davon, dass sie auch keine wissenschaftliche Grundlegung hatten. Und heute? Niemand spricht heute mehr von Ausbildungsreife beziehungsweise von mangelnder Ausbildungsreife. Warum? Weil sich der Ausbildungsstellenmarkt völlig gedreht hat und die Betriebe händeringend Auszubildende suchen – allerdings sind sie zu großen Teilen immer noch nicht bereit, von ihren viel zu hohen Anforderungen herunter zu gehen – dies wäre auch ohne eine Gefährdung der Qualität der Ausbildung durchaus möglich, etwa durch die Inanspruchnahme von unterstützender Begleitung oder Flexibilisierung der Ausbildung.

Über 270.000 Jugendliche im Übergangssektor im Jahr 2016 sind natürlich immer noch zu viele, die keinen direkten Einstieg in das Berufsbildungssystem finden.

 

Der Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit, dessen Sprecher ich damals war, hatte eine Workshopreihe aufgelegt, deren Ergebnis die "Kriterien und Empfehlungen für ein kohärentes Fördersystem für Jugendliche" waren, veröffentlicht in den "Beiträgen zur Jugendsozialarbeit". Der Begriff "kohärent" tauchte dann übrigens häufiger in der Debatte auf. Gemeint ist damit ein in sich stimmiges und abgestimmtes System, das von den Bedarfen der Jugendlichen ausgeht und die verschiedenen Förderinstrumente sinnvoll kombiniert. Ausgangspunkt ist dabei ein erfolgreiches Absolvieren der Ausbildung oder beruflichen Orientierung.

Über 270.000 Jugendliche im Übergangssektor im Jahr 2016 sind natürlich immer noch zu viele, die keinen direkten Einstieg in das Berufsbildungssystem finden. Wobei diese Zahl mit Sicherheit zu niedrig angesetzt ist, denn Jugendliche in landesbezogenen Förderprogrammen sind hier noch nicht eingerechnet.

Anpassen muss sich heute das Berufsbildungssystem

Es haben sich aber auch bei den fördernden Institutionen und den Akteuren in der "Szene" bemerkenswerte Entwicklungen  vollzogen: Die Bertelsmann-Stiftung hatte schon seit Ende der neunziger Jahre Projekte aufgelegt und Handreichungen erstellt, die sich mit der Situation der Jugendlichen beschäftigten. Dabei war (verkürzt) der Tenor meist der, dass die Jugendlichen in die Lage versetzt werden müssten, sich dem (Dualen) System so anzupassen, das sie es erfolgreich durchlaufen könnten. Mittlerweile hört sich das dezidiert anders an: Dass nämlich das Berufsbildungssystem so verändert werden müsse, dass es auch diese Jugendlichen aufnehmen kann – eine bemerkenswerte und positive Entwicklung.

"Übergänge mit System" und die Folgeprojekte haben dann eine große Anzahl von Bundesländern und die Bundesagentur für Arbeit einbezogen und Konzepte erarbeitet und Vorschläge entwickelt. Das Bestechende an diesem Vorgehen war die Einbeziehung der Bundesländer, die ja mit ihren Schulsystemen ein ganz maßgeblicher Akteur sind. Mittlerweile fordert auch die Bertelsmann-Stiftung eine Ausbildungsgarantie für alle Jugendlichen – wer hätte das vor sieben Jahren gedacht?

Bei den Institutionen hat sich seit 2009 ebenfalls Erhebliches getan: Die Bundesagentur für Arbeit hat ihr Projekt "Arbeitsbündnis Jugend Beruf" aufgelegt, es ist mittlerweile abgeschlossen. Es hatte zum Ziel, die verschiedenen Akteure und Vertreter der Förderinstitutionen (Arbeitsagenturen, Job Center, Berufsschulen, Jugendhilfe, Betriebe...) zusammenzubringen und Ansätze und Anreize zur Kooperation zu schaffen. Grundüberlegung  war dabei, dass man die Akteure zusammenbringen muss, wenn schon von der Politik dezidiert keine Änderungen in den Fördergesetzen und –instrumentarien beabsichtigt sind.

Förderung aus einer Hand

Dieses (damals auch stark kritisierte) Vorgehen hat letztlich bemerkenswerte Erfolge gezeitigt. Die Bundesländer haben begonnen, ihre Übergangssysteme umzubauen (so wörtlich in einigen Bundesländern). Die beabsichtigte Förderung aus einer Hand hat sich in vielen Modellen entwickelt und wurde realisiert, wirksam und sinnvoll in den "Jugendberufsagenturen", die der bisher wohl erfolgreichste Schritt auf dem Weg zu einer kohärenten Förderung sind. Vorreiter ist hier Hamburg, das mit seiner Ausprägung der Jugendberufsagenturen häufig als Leuchtturm genannt wird, Nordrhein-Westfalen geht einen ähnlichen Weg.

Die damals propagierten "Kommunalen Bildungslandschaften" haben sich in vielen Fällen realisiert oder sind auf dem Weg. Die Schulen, bisher sehr stark auf sich selbst bezogen, haben sich geöffnet: Schulsozialarbeit ist annähernd zum Regelangebot geworden, die Ganztagsschulen mit ihren Angeboten sind zahlenmäßig und qualitativ gewachsen.

In der Bundesagentur hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Prävention schon früh ansetzen muss, das hat zu dem sehr erfolgreichen Programm "Berufseinstiegsbegleitung" geführt, das in den achten Klassen der Schulen präsent ist. Last but not least hat das Bundesinstitut für Berufsbildung, durch die Programme "Bildungsketten" des BMBF angestoßen und finanziert, Berufsorientierungsprogramme und Kompetenzfeststellungen für Jugendliche bereits in der Schule umgesetzt.

Es hat sich vieles zum Besseren entwickelt, und das in einem, verglichen mit früheren Veränderungen, doch relativ kurzen Zeitraum.

 

Vieles bleibt noch zu tun

Noch immer ist unser Bildungssystem davon gekennzeichnet, dass soziale Herkunft weitgehend über den schulischen Erfolg entscheidet.  Noch immer münden 270.000 Jugendliche jährlich in Maßnahmen des Übergangssektors, die keinen Abschluss bieten und die Übergänge ins "Regelsystem" erschweren. Noch immer zählen wir aktuell 274 verschiedene Programme auf Landesebene. Noch immer sind Schulsozialarbeit und Berufsorientierung nicht flächendeckend implementiert. Noch immer befinden sich die Träger der Fördermaßnahmen der Bundesagentur mit unendlichem Ressourcenaufwand und dauernder Gefährdung der Strukturen durch den potenziellen Verlust von Maßnahmen bei Ausschreibungen in einem dauerhaft unsicheren Zustand. Noch immer sind die Rahmenbedingen des Personals der Träger durch die Vergabesystematik ungleich schlechter als in vergleichbaren Bereichen, das betrifft Gehälter ebenso wie Beschäftigungsbedingungen.

Unterstützungsangebote für junge  Menschen mit Förderbedarf werden leider nicht als ein ganz "normales" Element des Ausbildungsgeschehens angesehen (wie etwa in Österreich), sondern fristen neben den Regelstrukturen ein Dasein als "Sonderprogramme", was bei diesen Größenordnungen nicht zu rechtfertigen ist. Förderinstrumente und Regelstrukturen des Berufsbildungssystems müssen hier zusammengebracht werden.

Und trotzdem: Es hat sich, wie dargestellt, vieles zum Besseren entwickelt, und das in einem, verglichen mit früheren Veränderungen, doch relativ kurzen Zeitraum. Bleibt zu hoffen, dass die guten Erfahrungen der letzten Jahre, was Kooperation von Förderinstitutionen und Förderprogrammen betrifft, jetzt bei den Herausforderungen durch die Flüchtlinge bei uns zügig umgesetzt werden und dass nicht wieder in alte Muster der Fragmentierung von Förderung zurückgefallen wird – dann schaffen wir das.