22.05.2019

Verunsichert am Übergang

Schulabsolventinnen und -absolventen blicken zunehmend sorgenvoll in die eigene Zukunft

von Frank Tillmann und Birgit Reißig

Am Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf bewegen sich Jugendliche innerhalb einer biografisch vulnerablen Phase. Hier drohen insbesondere Schulabsolventinnen und Schulabsolventen mit niedrigeren beziehungsweise fehlenden Bildungsabschlüssen zu scheitern. Zwar scheinen sich in den letzten Jahren die Rahmenbedingungen am Ausbildungs- und Erwerbsmarkt gerade für diese jungen Menschen positiv zu verändern, dennoch weisen Befunde der aktuellen Übergangsforschung am Deutschen Jugendinstitut (DJI) auf neue Herausforderungen hinsichtlich individueller Bewältigungsaufgaben, aber auch institutioneller Unterstützungsleistungen hin.

Wandel der Anforderungen am Übergang

Anhand vorliegender Zeitreihendaten zeichnet sich ein Wandel übergangsbezogener Anforderungen ab, die sich an die jungen Menschen richten. Am Ende der letzten Dekade trafen die Schulabgängerinnen und Schulabgänger auf einen – im Vergleich zu heute – deutlich angespannteren Ausbildungsstellenmarkt. Inzwischen sind die Chancen auf einen Ausbildungsplatz für Bewerberinnen und Bewerber so gut wie lange nicht mehr, auch wenn hier durchaus, teils erhebliche, regionale Unterschiede auftreten. Auch die Jugendarbeitslosenquote, also der Anteil der Arbeitssuchenden zwischen 15 und 25 Jahren, hat sich seither mehr als halbiert. Dennoch haben sich auch individuelle Sichtweisen und Prioritäten der Jugendlichen verändert. So wird an ihren subjektiven Bewertungen zur Wichtigkeit von verschiedenen Lebensbereichen sichtbar, dass dem Beruf eine zunehmende Bedeutung beigemessen wird. Da im selben Zeitraum auch der Stellenwert der Familie zunahm, können hieran insgesamt gestiegene Ansprüche der Jugendlichen an ihre Selbstverwirklichung abgelesen werden, wobei beide Lebensbereiche miteinander in Einklang gebracht werden müssen – eine Aufgabe, die letztlich auf jede Einzelne und jeden Einzelnen zurückfällt.

Was tun? Gestresst inmitten der vielen Optionen. Bild: Wayhome Studio | Adobe Stock

Wenn die Jugendlichen dann vor Verlassen der Schule mit der Entscheidungsfindung des Berufswahlprozesses konfrontiert werden, sehen sie sich einem gewachsenen Umfang von Anschlussoptionen gegenüber, etwa den vielen verschiedenen Ausbildungsmöglichkeiten, einer enorm ausdifferenzierten Anzahl von Studienrichtungen, Freiwilligendiensten, aber auch den vielfach unübersichtlichen Angeboten und Maßnahmen des Übergangsbereichs. Gleichzeitig wird mit dem bevorstehenden Schulabgang eine Berufswahlentscheidung institutionell forciert, wobei daraus resultierende persönliche, teils weitreichende Konsequenzen für die Jugendlichen immer schwieriger abzuschätzen sind. Der aktuelle Auszubildenden- und künftige Fachkräftebedarf in der Region ist für sie dabei zumeist intransparent. Angesichts dieser Vielfalt an unwägbaren Möglichkeiten und dem bestehenden Zeitdruck hat das Ausmaß an "Optionsstress", das heißt die Belastungen durch drängende Entscheidungen zwischen komplexen Optionen, für die Schülerinnen und Schüler zugenommen. Einen Hinweis darauf liefern Befragungsergebnisse unter angehenden Hauptschulabsolventinnen und Hauptschulabsolventen, wonach die Sorge um die eigene Zukunft innerhalb der letzten Jahre deutlich zugenommen hat. Inzwischen sieht dies nahezu die Hälfte der Befragten für sich als Problem an.

Auch zeigt sich, dass insbesondere junge Frauen sowie Jugendliche aus sozial schwächeren Herkunftsfamilien größere Zukunftsängste hegen. Da es sich hier um objektive Benachteiligungskriterien handelt, legt dies eine Deutung als subjektiv empfundene zukunftsbezogene Vulnerabilität nahe. Aus verschiedenen aktuellen Regionalstudien geht hervor, dass diese Befürchtungen nicht nur von Absolventinnen und Absolventen aus niedrigen, sondern gleichermaßen von solchen aus mittleren wie gymnasialen Bildungsgängen geteilt werden. Darüber hinaus verdeutlichen die Befragungsergebnisse, dass die geäußerte Verunsicherung nicht allein auf die ebenfalls erhobene, aber weniger stark ausgeprägte Sorge zurückzuführen ist, im Anschluss keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu bekommen. Die beobachtbare verbreitete Verunsicherung unter Jugendlichen am Übergang trotz offensichtlich verbesserter Rahmenbedingungen des Ausbildungsstellen- und Erwerbsmarktes kann augenscheinlich als ein "Optionsparadox" betrachtet werden.

Der Wandel der Anforderungen am Übergang besteht also darin, dass sich Jugendliche heute zwar weniger um eine Platzierung auf dem Ausbildungs- und Erwerbsmarkt sorgen, dafür aber in weit stärkerem Maße mit der Komplexität von Entscheidungen und berufsbiografischen Unsicherheiten umgehen müssen.

 

Nachvollziehbarer wird die beschriebene Entwicklung mit Blick auf die Qualität der mit dem Erwerbseinstieg erlangten Beschäftigungsverhältnisse: Hier ist klar erkennbar, dass sich junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich häufiger in prekärer Erwerbsarbeit befinden, die beispielsweise von niedriger Entlohnung, atypischen Arbeitszeiten oder Befristung gekennzeichnet ist, was von den Jugendlichen sicherlich als neue Realität der Arbeitswelt antizipiert wird. Der Wandel der Anforderungen am Übergang besteht also darin, dass sich Jugendliche heute zwar weniger um eine Platzierung auf dem Ausbildungs- und Erwerbsmarkt sorgen, dafür aber in weit stärkerem Maße mit der Komplexität von Entscheidungen und berufsbiografischen Unsicherheiten umgehen müssen.

Unterstützung von den Jugendlichen aus denken

Vor allem dann, wenn junge Menschen in ihren Eltern keine gut informierten Ratgeberinnen und Ratgeber sehen, wenden sie sich im Berufswahlprozess verstärkt an institutionelle Akteure, wie zum Beispiel Lehrkräfte und Berufsberaterinnen und Berufsberater. Während die Jugendlichen zu Beginn ihrer beruflichen Entwicklung Zielkategorien wie Selbstverwirklichung, Sinnstiftung oder materielle Sicherheit verfolgen mögen, sind die Handlungsrationalitäten der Institutionen, die sie am Übergang unterstützen sollen, vielfach an anderen Zwecken ausgerichtet. So sind etwa Akteure aus der beruflichen Beratungspraxis und dem Fallmanagement vorrangig an Passungen und an der Effizienz ihrer Unterstützungsleistung interessiert, wobei Beraterinnen und Berater gegenüber den Jugendlichen zumeist den Wissensvorsprung zu bestehenden Angeboten und Optionen besitzen. Demnach liegt hier keineswegs eine koproduktive Interessenidentität zwischen Unterstützenden und Jugendlichen vor. Davon zeugt das folgende Zitat einer Jugendlichen aus Halle (Saale), die über ihre Erfahrungen im Berufs- und Informationszentrum (BIZ) der Bundesagentur für Arbeit berichtet: "Da gab‘s halt diese Aufgaben, die man lösen musste. Da kamen manchmal Berufe raus, die einen gar nicht wirklich interessiert haben, aber die halt zu einem gepasst haben. Aber man muss ja nicht das nehmen, was zu einem passt, sondern das, was einem gefällt."

"Da gab‘s halt diese Aufgaben, die man lösen musste. Da kamen manchmal Berufe raus, die einen gar nicht wirklich interessiert haben, aber die halt zu einem gepasst haben. Aber man muss ja nicht das nehmen, was zu einem passt, sondern das, was einem gefällt."

 

In dem Statement wird die übliche Passungslogik der Beratungspraxis aus der subjektiven Sicht der interviewten Jugendlichen auf frappierend plausible Weise zurückgewiesen. Außerdem weist die Aussage auf die von institutioneller Seite vielfach vernachlässigte Bedeutung motivationaler Voraussetzungen hin. Dabei bilden diese die wichtigste individuelle Ressource am Übergang, da sie die Grundlage für das Interesse an Inhalten, Durchhaltevermögen und persönliche Anstrengungen sind. So kann mit Verweis auf Barbara Stauber und Andreas Walther eine Kausalität von Motivation, Kompetenzerwerb und Übergangserfolg unterstellt werden, die durchaus auch Rückkoppelungen, beispielsweise vom erfolgreichen Erwerb von Kompetenzen auf die Motivation der Jugendlichen, einschließt. Von Seiten des Unterstützungssystems wird, etwa bei der Anbahnung von Qualifizierungsmaßnahmen, das Vorhandensein der motivationalen Voraussetzungen bei den Jugendlichen in aller Regel per se unterstellt, ebenso wie die Fähigkeit zur Selbstorganisation und ein intaktes Selbstwertgefühl.

Da insbesondere viele benachteiligte Jugendliche diese Eigenschaften, gerade auch vor dem Hintergrund erfahrener Demütigung in Schule, Peergroup und sogar in der Familie, nicht aufbieten können, fallen sie häufiger aus solchen Unterstützungssystemen heraus, wie zum Beispiel dem Fallmanagement im U25-Bereich der Jobcenter. Sie werden im Zuge des "Unterstützungsprozesses", den sie in hohem Maße als fremdbestimmt wahrnehmen, regelrecht ausgesteuert. Insofern besteht die Dysfunktionalität dieser Unterstützungsinstanzen darin, dass Adressatinnen und Adressaten zunächst erhebliche Ressourcen mitbringen müssen, um überhaupt in den Genuss von Unterstützungsleistungen zu gelangen. Ausgeprägte Matthäuseffekte einer selbstverstärkenden Verfestigung von Benachteiligungsmerkmalen am Übergang sind hier die Folge. Wenn gerade Jugendliche mit psychosozialen Beeinträchtigungen durch die Unterstützungssysteme oft nicht erreicht werden, dann führt dies leicht zu einem Leben unterhalb des Existenzminimums bis hin zu Wohnungslosigkeit.

Schlussfolgerungen

  • Ein inklusives Unterstützungssystem am Übergang
    Die beschriebenen Entwicklungen geben deutliche Hinweise darauf, dass ein großer Teil der Jugendlichen am Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf nach wie vor institutionelle Unterstützung benötigt, obwohl sich marktbezogene Gegebenheiten des aufnehmenden Systems verbessert haben. An die benannten Unzulänglichkeiten schließt sich die Forderung nach einem inklusiven Unterstützungssystem an. Damit wird – entgegen der üblichen Verwendung des Wortes "inklusiv" mit Bezug auf die Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen – an dieser Stelle vielmehr eingefordert, dass solche Angebote der beruflichen Orientierung, des Fallmanagements und der Jugendberufshilfe prinzipiell für alle Jugendlichen zugänglich und vor allem nützlich sein müssen, unabhängig von individuellen Voraussetzungen. Dazu wäre es beispielsweise unabdingbar, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fallmanagements im U25-Bereich eine sozialpädagogische Ausbildung aufweisen.
  • Standardisierung von Unterstützungsmaßnahmen überwinden
    An die erste Schlussfolgerung knüpft sich die Handlungsanforderung an übergangsbezogene Unterstützungsinstanzen, von standardisierten Angeboten abzurücken und die individuellen Bedarfe der Jugendlichen in den Mittelpunkt zu stellen. So sind insbesondere dialogische Angebote für Jugendliche in frühen Phasen der beruflichen Orientierung von Interesse, die ihre beruflichen Neigungen und Wünsche berücksichtigen. Auch im späteren Übergangsverlauf kommt es auf Maßnahmen an, die den persönlichen Voraussetzungen und Erwartungen Rechnung tragen. Demgegenüber sehen sie sich heute vielfach fremdbestimmten und standardisierten Verfahren des Profilings und der Zuteilung zu vakanten Integrationsmaßnahmen ausgesetzt.
  • Orientierung in einem zunehmend komplexen Optionsraum bieten
    Wie deutlich wurde, müssen die Unterstützungsinstanzen am Übergang heute mehr denn je einen Beitrag dazu leisten, die Komplexität an schulischen und nachschulischen Optionen beziehungsweise Angeboten für die Jugendlichen zu reduzieren. Um ihnen zunächst eine bessere Orientierung vom Standpunkt ihrer Lebenswelt zu ermöglichen, sollten gerade Informationen über regionale Ausbildungsangebote und künftige Fachkräftebedarfe für Jugendliche aufbereitet und die Möglichkeiten vor Ort für sie auf diese Weise transparent gemacht werden. Von Seiten der Kammern gibt es zwar vielerorts bereits ein Fachkräftemonitoring, das auch künftige Bedarfe in der Region abbildet. Dieses richtet sich jedoch ausschließlich an Unternehmen und liegt nicht in einer für Jugendliche aufbereiteten Form vor. Auch sollten Fachkräfte der Schulsozialarbeit ihre berufsorientierenden Angebote ausweiten.

Insgesamt müssen institutionelle Akteure, die unterstützend mit Jugendlichen arbeiten, unter dem Vorzeichen der sich wandelnden Bedingungen weit stärker von den Jugendlichen und ihren spezifischen Bedarfen aus denken, um sie bei der Bewältigung der veränderten Anforderungen am Übergang zu stärken.

Weitere Informationen

  • Was kommt nach der Schule? (PDF)
    Reißig, Birgit; Tillmann, Frank; Steiner, Christine; Recksiedler, Claudia: Was kommt nach der Schule? Wie sich Jugendliche mit Hauptschulbildung auf den Übergang in die Ausbildung vorbereiten, Deutsches Jugendinstitut, München 2018.
  • Deutsches Jugendinstitut e.V.
    Auf der Webseite des Deutschen Jugendinstituts finden Sie weiterführende Informationen zur Forschung von Birgit Reißig und Frank Tillmann rund um das Thema "Übergänge im Jugendalter".