12.09.2022
Produktionsschulen in Deutschland
Ein pluralistisch-pädagogisches Bildungsangebot im Übergangssektor
von Martin Mertens
Die Produktionsschulen entspringen dem Gedanken, einen Ort für junge Menschen zu schaffen, die eine andere Art des Lernens benötigen als jene, die das herkömmliche Bildungssystem kennzeichnet. Eine entscheidende Besonderheit von Produktionsschulen liegt im Konzept des kooperativ organisierten Lern- und Arbeitsprozesses begründet, wodurch den jungen Menschen eine arbeitsweltbezogene Berufsorientierung und -vorbereitung oder eine Ausbildung oder auch Nachqualifizierung ermöglicht wird. Gerade für Lernungewohnte ist das Konzept der Verbindung von Arbeit, Unterricht und sozialpädagogischer Begleitung besonders lernförderlich.
Ist die Mauer gerade? Der Ausbilder schaut genau hin. Bild: goodluz | Adobe Stock
Alltag in der Produktionsschule: Hinter sich einen Berg Sand, vor sich den Zementmischer. Seit fast einer Stunde geht Karim ohne Unterbrechung seiner Arbeit nach: Immer wieder füllt er Sand, Wasser und Zement in die runde Tonne, entleert sie und schickt mit dem fertigen Speis einen Kollegen mit der Schubkarre auf die andere Seite des Gebäudes. Fünf junge Männer sind dort damit beschäftigt, neue Fenster einzupassen. Die Zusammenarbeit funktioniert – in kleinen Schritten: Einer hält die Karre fest, ein Zweiter füllt den Zement in den Eimer. Der Dritte reicht ihn nach oben, der Vierte nimmt ihn an. Der Verlauf bietet viel Raum für "Unsinn", also vergeht kaum eine Minute, ohne dass ihr Ausbilder sich einschaltet und die Jungs anleitet, dieses oder jenes so oder anders zu tun. Die Jugendlichen, die hier die Arbeit auf dem Bau lernen, sind keine Auszubildenden – und ohne weitere Vorbereitung werden sie auch keine. Vier der fünf haben keinen Schulabschluss, jeder hat noch andere Päckchen zu tragen, die einer erfolgreichen Lebensperspektive im Weg stehen. Was also ist hier anders und wie kommen die jungen Menschen doch noch zu einem Ausbildungsplatz?
Handlungs- und Praxisorientierung der Lernprozesse
Eine Produktionsschule, in einigen Regionen auch als Jugendwerkstatt bezeichnet, ist ein Lernort, an dem Arbeiten und Lernen sich gegenseitig bedingen. Junge Menschen machen in Produktionsschulen Lernerfahrungen an "sinnbesetzten Gegenständen", mit Produktion und Dienstleistungen. Im Mittelpunkt steht eine sehr hohe Praxis- und Handlungsorientierung aller Lernprozesse. Mit ihrem Konzept des praktischen Lernens machen Produktionsschulen die erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen der Jugendlichen zum Ausgangspunkt. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf den eigenen Wirksamkeitserfahrungen und der Eigenmotivation der Lernenden.
Die Produktionsschule begegnet so den aktuellen Defiziten im allgemeinbildenden und beruflichen Bildungssystem insbesondere in Bezug auf die berufliche Orientierung, die Dominanz kognitiver Lernprozesse – Sprach- und Schriftlastigkeit – und die unzureichende Förderung der sozialen und emotionalen Kompetenzen der Jugendlichen. In der Produktionsschule wird auf die Verschulung von Lernprozessen und auf die Dominanz kognitiven Lernens zu Gunsten der Entwicklung praktischer Fähigkeiten und sozial-emotionaler Nachreifung verzichtet. Das pädagogische Handeln der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist geprägt durch eine respektvolle Haltung gegenüber der Person und ihrem Lebensentwurf. Dies bedeutet: empathische Zuwendung, nachvollziehbare Grenzziehung und Orientierung an Erfolg und Stärken.
Vielleicht brauchen junge Leute mit Lebensproblemen Orte, die für sie einladend sind, und Menschen, die für sie glaubwürdig erscheinen. (1)
Die berufliche Bildung geht zwar im Kern als deklarierte Absicht durchaus regelhaft vom Konzept der Handlungsorientierung aus. In der Realität praktiziert sie methodisch jedoch formelhaft und frontal, eher theorielastig. Produktionsschulen setzen hingegen das Konzept der Handlungsorientierung in die reale Herstellung gebrauchsfertiger Produkte um. Das essentielle Prinzip der Produktionsschul-Didaktik schafft Selbsttätigkeit, indem es mit exemplarischer Fantasie die vollständige Handlung von der Kundenakquise über die Produktplanung und das Produktdesign, die kooperative Arbeit am Produkt bis zum Verkauf methodisch praktisch gestaltet. So verwirklicht sich das Duale real in der didaktischen Einheit von Theorie und Praxis an einem Lernort.
Das (berufs-)pädagogische Zauberwort heißt Produktion. Die produktive Arbeit steht im didaktischen Zentrum von Produktionsschulen und trägt dazu bei, die Jugendlichen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung qualifiziert zu unterstützen. Darüber hinaus will die Produktionsschule nichtfremdbestimmte Arbeitstugenden und demokratische Grundwerte vermitteln, um junge Menschen in die Gesellschaft zu integrieren; positiv in der Persönlichkeitsentwicklung, von der Selbstwirksamkeit über Teilhabe, hin zur Lebensfähigkeit. Die "berufliche Förderpädagogik"(2) bildet dabei die Grundlage für die Kompetenzen und Qualifikationen der Fachkräfte in Produktionsschulen.
Das pädagogische Konzept der Produktionsschule ist konstitutiver Bestandteil der Arbeits- und Produktionsprozesse zur Förderung und Kompetenzentwicklung junger Menschen. Lernprozesse werden mit Arbeit in betriebsnahen Strukturen mit Werkzeugen und Inhalten zielorientiert verknüpft: "Der Wunsch nach Theorie entsteht in der Produktion!"(3) Gerade dadurch werden Kenntnisse, Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die für die Aufnahme und Durchführung einer Berufsausbildung und/oder einer Erwerbstätigkeit notwendig sind, entwickelt und gefördert. Die betriebsnahen Strukturen (Werkstätten, beziehungsweise Dienstleistungsbereiche) bilden das Gerüst und Werkzeug für eine arbeitsweltbezogene Berufsorientierung, -vorbereitung, -ausbildung und Nachqualifizierung. In der auf soziale Bedürfnisse und Lebensperspektiven von lebendigen Menschen orientierten Werkstattkultur der Produktionsschule verknüpfen sich die Kultur und Geschichte der lebendigen Arbeit mit den Erkenntnissen der digitalen Revolution, mit der Kultur der Jugend in Handlungseinheit, mit der Idee des produktiven Lernens: eine historisch neue Gestalt von Bildung und Erziehung.
Die in der Produktionsschule realisierten didaktisch-methodischen Konzeptionen zur Förderung Jugendlicher zielen darauf, deren Leistungspotentiale zu aktivieren und damit ihre Entwicklungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Sie fördert die Integration junger Menschen in die Arbeitswelt durch
- die Gewöhnung an einen Arbeitsrhythmus,
- die Einhaltung innerbetrieblicher Umgangsformen,
- das Zurechtfinden in betrieblichen Strukturen,
- die Übernahme von Verantwortung bei der Arbeit,
- die Auseinandersetzung mit Kolleginnen und Kollegen,
- das Lernen voneinander,
- die bewusste Berufsentscheidung,
- die Unterstützung bei der persönlichen Nachreifung.
Ein weiteres Grundprinzip der Produktionsschule ist die Verbindung von kognitiven, emotionalen, sozialen sowie handlungsbezogenen und praktischen Lernprozessen. Lernen ist stark bedingt durch die Situation der Lernenden sowie durch die lehrende Person; also Werkstattpädagoginnen und -pädagogen, Lehrerinnen und Lehrer, Ausbilderinnen und Ausbilder. Gerade Jugendliche mit verfestigten Mustern und nicht immer linearen Biografien finden hier tragfähige Beziehungsangebote der (Werkstatt-)Pädagogik. Der wesentliche pädagogische Merkposten ist die intensive Beachtung der fantasievollen und durchaus verschlungenen Wege der Triebansprüche und Affekte in der Adoleszenz (heimlicher Lehrplan). Damit werden die herkömmlichen Formen der betrieblichen Didaktik wie Vorbereiten, Vormachen, Nachmachen, Üben, zugunsten eines neuen Verständnisses offenen und allgemeinbildenden Lernens überwunden.
Hinzu kommt eine Verbesserung und Intensivierung der Zusammenarbeit regionaler Kooperationspartner (Betriebe, Schulen, Kommunen, Bildungsträger), zum Beispiel über regionale Beiräte mit Vertretern der Sozialpartner und kommunalen Körperschaften, durch die Etablierung von Produktionsschulen vor Ort. Produktionsschulen zeichnen sich durch eine besondere Lern- und Organisationskultur aus. Damit verfolgen sie nicht nur besondere pädagogische Ziele, sondern sie artikulieren auch eine explizit sozialpolitische Dimension: Die Förderung von Integration. In diesem Sinne sehen sie die Einbindung von jungen Flüchtlingen und Asylbewerberinnen und -bewerbern als eine der bestimmenden Herausforderungen für die Produktionsschulen.
Im Spannungsfeld von Pädagogik und Ökonomie
In mehrfacher Hinsicht stellt die Produktionsschule einen Spezialfall von Schule dar: Ein gewisses Paradox zwischen Pädagogik und Ökonomie. Sichtbar an ihrer Rechtsform, Größe, Finanzierung, Sozialraumorientierung, Schülerrekrutierung und vor allem hinsichtlich ihres pädagogischen Profils. "Lernen an Produktionsaufgaben" wirft eine ganze Reihe von Fragen und Gestaltungsproblemen auf, die sich aus der pädagogischen Bedeutung von Arbeits- und Produktionsprozessen zum Zwecke der Förderung von Jugendlichen mit besonderem Unterstützungsbedarf ableiten lassen.
Die Qualität muss stimmen, wenn die Produkte verkauft werden sollen. Bild: Vesbe e.V.
Die curriculare Ausrichtung von Produktionsschulen erfolgt entsprechend der Auftragssituation vor Ort: Produktionsschulen strukturieren ihre Lernprozesse vor dem Hintergrund realer Aufträge, die die Schulen von externen Kunden entweder erhalten oder selbst akquirieren. Dieser Marktbezug öffnet die Produktionsschule in besonderer Weise gegenüber ihrem gesellschaftlichen Umfeld, erzeugt aber zugleich auch das pädagogische Gestaltungsproblem zwischen didaktischer Herausforderung und betriebswirtschaftlicher Notwendigkeit. Bei der Produktion gebrauchs- und verkaufsfähiger Gegenstände und Dienstleistungen muss einerseits die Produktionsschule pädagogisch differenzieren, indem sie am individuellen Entwicklungsstand der einzelnen Produktionsschülerin, des Produktionsschülers in Kooperation mit der Gruppe ansetzt und sie oder ihn mit Arbeitsaufgaben konfrontiert, die herausfordern. Andererseits gibt es Gesetzmäßigkeiten und Imperative des Marktes, Kundenwünsche, Qualitätsansprüche und Terminvorgaben, die nicht folgenlos ignoriert werden dürfen.
Das Gestaltungsproblem der anregenden und spannenden Kombination von Arbeiten und Lernen wird dadurch komplexer, dass es keine festen Ein- und Ausstiegstermine in die Produktionsschule gibt. Produktionsschülerinnen und -schüler treten zu einem Termin, der für sie in ihrem sozialen Umfeld passt, freiwillig als Anwärterinnen und Anwärter in die Produktionsschule ein. Sie können diese entweder nach etwa einem Jahr Berufsvorbereitung oder in der Berufsausbildung nach drei- oder dreieinhalb Jahren wieder verlassen.
Manchmal braucht es länger, bis gute Ideen von den Regelsystemen und deren Institutionen aufgegriffen werden. Das Konzept der Produktionsschule ist solch ein Beispiel. (4)
Historische Entwicklung der Produktionsschulen
Fakten zu Produktionsschulen |
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• seit 1990 etwa 200 Gründungen • 7.500 Plätze pro Jahr • für junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren • Vorbereitung auf Ausbildung oder Schulabschluss • Nachholen des Schulabschlusses • begleitete, reguläre Ausbildung
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Produktionsschulen sind keine pädagogischen Entdeckungen der 70er oder gar der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland, sondern haben eine europäische Genese. Das Produktionsschulprinzip wurde im späten 19. Jahrhundert "nicht in die Luft hinein konstruiert" – eine der ersten entstand in Frankreich. (5) Das Gestaltungsprinzip ist unterbaut von den Gedanken der großen Pädagogen des 18. und 19. Jahrhunderts.(6). Bereits 1923 fand der Produktionsschulkongress des "Bund(es) entschiedener Schulreformer" in Deutschland statt. Die Nationalsozialisten verboten 1933 diese Organisation und ihre pädagogischen Bemühungen. Erst wieder im Anschluss an die sozialen Bewegungen Ende der 1960er Jahre nahm die Bewegung Fahrt auf. Seit Beginn der 1990er Jahre, inspiriert durch die dänischen Produktionsschulen, kam es deutschlandweit zur konkreten Einrichtung von Produktionsschulen an unterschiedlichen Orten. Aktuell stehen in Deutschland in circa 200 Produktionsschulen 7.500 Plätze für Lernende pro Jahr offen. Der Bundesverband Produktionsschulen e. V. hat 2010 Qualitätsstandards formuliert und verabschiedet (7), als Rahmen für die Pädagogik, Struktur und Finanzierung von Produktionsschulen.
Nicht einheitlich, aber mit Gemeinsamkeiten
Fakt ist: Es existiert in Deutschland noch kein einheitlicher Typus von Produktionsschulen; gleichwohl gibt es übertragbare Gemeinsamkeiten. So kann in Produktionsschulen die Schulpflicht der allgemein bildenden Schule beziehungsweise der Berufsschule erfüllt werden. Produktionsschulen nehmen in einigen Bundesländern von Ausgrenzung bedrohte Schülerinnen und Schüler (Schulverweigerer) ab Klasse 8 auf, bereiten sie auf die Rückkehr in Regelschulen vor und/oder vermitteln ihnen außerhalb des Regelschulangebots Möglichkeiten zu einen staatlichen Schulabschluss zu kommen. Einige ermöglichen das Nachholen des Schulabschlusses auch selbst. Produktionsschulen bieten auch den nicht mehr schulpflichtigen jungen Menschen, die im ersten Arbeitsmarkt weder eine Berufsausbildung noch eine Beschäftigung finden oder eine Ausbildung abgebrochen haben, arbeitsmarkt- und -rechtliche Anschlussperspektiven. Produktionsschulen können auch als außerbetriebliche Ausbildungsstätten und als soziale Betriebe des zweiten Arbeitsmarkts im Rahmen der Nachqualifizierung fungieren. Wir finden im Ergebnis in deutschen Produktionsschulen Jugendliche und junge Erwachsene, darunter auch Flüchtlinge und Asylbewerberinnen und -bewerber, in einer Altersspanne von 14 bis 27 Jahren.
"Der Wunsch nach Theorie entsteht in der Produktion!" (8)
Unterschiedliche Ausgestaltungen
Die in den letzten Jahrzehnten gegründeten Produktionsschulen in Deutschland waren ein offenes Modell bezüglich der Konzeptionierung und in ihrer pädagogischen Praxis. Dies war wichtig, um unterschiedliche schulische und außerschulische Produktionsschulmodelle zu erproben, die positive Anknüpfungspunkte mit Weiterentwicklungsperspektive bieten. Diese Modelle zeigten dabei eine überzeugende pädagogische Antwort auf Integrations- und Gefährdungsprobleme der jungen Menschen, als einer extrem heterogenen gesellschaftlichen Gruppe.
Der Bundesverband Produktionsschulen ist eingebettet in die europäische und internationale Vernetzung der International Production School Organization – IPSO.(9) Dieser Verbund hat unter anderem das Ziel, die Produktionsschulen als Element der Europäischen Jugendgarantie (10) zu nutzen, um sie als sinnvolle Angebote gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit auch in anderen EU-Staaten einzuführen und nachhaltig zu etablieren.
Copyright-Info: Dieser Text ist eine Überarbeitung des gemeinsamen Textes von Martin Mertens und Henner Stang aus dem Jahr 2016.
Aktuelle Literatur
- Arbeiten und Lernen in Corona-Zeiten in den Sprungbrett-Produktionsschulen (PDF)
Bakker, Peter und Oertel-Sieh, Sabine: Praxis- und Erfahrungsbericht: "Arbeiten und Lernen in Corona-Zeiten in den Sprungbrett-Produktionsschulen". In: Heisler, Dietmar und Meier, Jörg A. (Hrsg.): Berufsausbildung zwischen Hygienemaßnahmen und Lockdown(s). Folgen für die schulische und außerschulische Berufsausbildung in Schule, im Betrieb und bei Bildungsträgern. Seite 409 - 422. Bielefeld 2022
Dateigröße: 1,25 MB - Die Produktionsschulen – Konzepte, Handlungsansätze, Forschungsbefunde (PDF)
Mertens, Martin: Die Produktionsschulen – Konzepte, Handlungsansätze, Forschungsbefunde. In: Stein, Roland und Kranert, Hans-Walter (Hrsg.): Pychische Belastungen in der Berufsbiografie. Interdisziplinäre Perspektiven. Seite 169 - 179. Bielefeld 2022
Dateigröße: 9,69 MB