19.05.2016
Funktionaler Analphabetismus und Ausbildung
Praxisbericht zum Projekt „Alpha-Quali"
von Dietmar Heisler
In Deutschland kann jede/r Zehnte nicht richtig lesen und schreiben und gilt als funktionale/r Analphabet-/in. Lange war unklar, welches Ausmaß dieses Problem in Deutschland tatsächlich hat. Die leo.-Level-One-Studie verdeutlicht: 7,5 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben.
Viele von ihnen sind zwar in der Lage, ihren Namen zu schreiben und einzelne Worte, Schilder et cetera zu lesen, aber bei ganzen Sätzen oder längeren Texten sind sie überfordert. Einige haben schon in der Schule Strategien entwickelt, diese Schwäche zu verdecken und das Schreiben zu vermeiden.
Das Projekt „Alpha-Quali“, ein Verbundprojekt der Universität Erfurt, dem Fachgebiet Berufspädagogik (Dietmar Heisler) und der Professur Grundlegung Deutsch (Prof. Gerd Mannhaupt), der VHS-Bildungswerk GmbH und dem BBZ der Kreishandwerkerschaft Hellweg-Lippe, versuchte für dieses Thema im Bereich der Berufsausbildung zu sensibilisieren und das Ausbildungspersonal dafür zu professionalisieren. Das Projekt wurde im Förderschwerpunkt „Arbeitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zwischen September 2012 bis August 2014 gefördert.
Hohe Anzahl funktionaler Analphabet-/innen in Ausbildung
Was hat funktionaler Analphabetismus mit Ausbildung zu tun? Die leo-Studie belegt, dass funktionaler Analphabetismus in Deutschland – wie in anderen Ländern auch – ein Problem der Berufs- und Arbeitswelt ist: Rund 57 Prozent der funktionalen Analphabet-/innen sind erwerbstätig und 6,5 Prozent befinden sich in einer Ausbildung. Zählt man diejenigen hinzu, die nur fehlerhaft schreiben können, aber noch nicht zu den funktionalen Analphabeten gezählt werden, sind weitere zehn Prozent der Auszubildenden betroffen. Ausgehend von den Ergebnissen der Leo-Studie bedeutet dies, dass bei einer Klassenstärke von ca. 20 Schülern, in jeder Berufsschulklasse mindestens zwei funktionale Analphabeten sitzen, in BVJ-Klassen möglicherweise sogar mehr.
Für den Erfolg einer Berufsausbildung kann dies fatale Folgen haben: Eine besondere Herausforderung ist für die Betroffenen die Bewältigung von Lernprozessen, die mit schriftsprachlichen Anweisungen, Aufgabestellungen und Arbeitsblättern, mit Texten, Handreichungen, Fachbüchern etc. arbeiten, in denen es um die Erarbeitung und das Lernen theoretischen Wissens geht. Gerade die im Unterricht verwendeten Lehrmaterialien und Fachtexte sind häufig von Wissenschaftlern und Fachvertretern geschrieben und viel zu anspruchsvoll für die betroffenen Jugendlichen.
Auch die schriftliche Dokumentation von Lernergebnissen wird genauso wie das Schreiben des Ausbildungsnachweishefters für sie zum Problem. Das Lesen, Verstehen und Umsetzen von schriftlichen Handlungsanweisungen stellt für sie eine große Herausforderung dar und erschwert berufliche Lernprozesse. Die Folgen davon können Demotivation, Überforderung, das Scheitern in Abschlussprüfungen und schließlich auch Ausbildungsabbrüche sein. Auch wenn sie das Problem erkennen, sind Lehrkräfte überwiegend ratlos, wie sie damit umgehen sollen.
Viele von ihnen verstehen sich zudem eher als Vertreter ihres Fachs und sehen sich nicht in der Verantwortung, Förderangebote zur Vermittlung der Schriftsprache zu unterbreiten. Vielmehr werden ausreichende schriftsprachliche Kompetenzen als Voraussetzung dafür gesehen, überhaupt eine Ausbildung beginnen zu können, das heißt als Teil von „Ausbildungsreife“. Ihre Vermittlung wird damit zur Aufgabe der allgemeinbildenden Schulen oder von beruflichen Förderangeboten erklärt.
Sensibilisierung für das Thema „funktionaler Analphabetismus“
Im Projekt Alpha-Quali wurde berufspädagogisches Personal dafür qualifiziert, junge Erwachsene lebenslagenorientiert und inklusiv zu alphabetisieren. Die Förderung schriftsprachlicher Fähigkeiten soll an konkreten beruflichen Themen erfolgen. Berufliche und allgemeine Bildung sollten miteinander verzahnt werden. Um dies zu leisten, wurden Ausbilder, Lehrer, Sozialpädagogen für das Thema sensibilisiert und mit ihnen mögliche Handlungsansätze entwickelt.
Abb. 1: Schriftprobe aus einer Leistungsüberprüfung im Bereich Lager
Zunächst ging es darum, funktionalen Analphabetismus zu erkennen, was nicht immer einfach ist (siehe Abbildung 1). Beim hier gezeigten Beispiel kann nicht von funktionalem Analphabetismus ausgegangen werden. Die Fragestellung wurde durch den Jugendlichen offensichtlich erfasst. Dennoch zeigen sich anhand des Schriftbildes und mit Blick auf die Rechtschreibung Defizite in den schriftsprachlichen Fähigkeiten des Jugendlichen.
Nicht in jedem Fall ist eine schlechte Handschrift ein Hinweis auf funktionalen Analphabetismus. Zumindest wird an diesem Beispiel aber deutlich, dass sich die berufliche Bildung viel stärker darüber bewusst sein muss, dass Auszubildende über unterschiedliche schriftsprachliche Kompetenzen verfügen und manche sogar über sehr geringe. Gerade in Zeiten, in denen das Berufsbildungssystem inklusiver werden soll, ist dies bei der Gestaltung beruflicher Lernprozesse viel stärker zu berücksichtigen.
"Eine der wesentlichen Aufgaben der Zukunft besteht in der Aufklärung und Schulung des Personals in Betrieben und Berufsschulen".
In weiteren Workshops sollte gezeigt werden, wie Lernangebote auf die Förderbedarfe funktionaler Analphabet-/innen abgestimmt werden können. Es ging darum zu zeigen, wie die betroffenen Jugendlichen durch individualisierte und binnendifferenzierte Lehr-Lern-Arrangements unterstützt werden können.
Um möglichst viele Pädagogen mit dem Projektansatz zu erreichen, wurden in einer ersten Projektphase zehn Multiplikatoren weitergebildet. Gemeinsam wurden exemplarisch sprachsensible Lernmaterialien entwickelt, die gezielt in der Ausbildung zur Alphabetisierung eingesetzt werden können. Im nächsten Schritt akquirierten diese Multiplikatoren neue Teilnehmerinnen und Teilnehmer für Workshops, die sie nun selbst durchführten. Adressaten waren zum Beispiel Berufsschullehrer oder das Ausbildungspersonal aus Handwerksbetrieben. Dafür wurde ein wissenschaftlich fundiertes Schulungsprogramm entwickelt, welches nun von den Multiplikatoren umgesetzt wurde.
Insgesamt wurden von den Multiplikatoren sechs themenbezogene und aufeinander aufbauende Workshops umgesetzt. Zunächst ging es um die Ursachen und Erscheinungsformen von funktionalem Analphabetismus sowie um die Lebenslagen und Bewältigungsformen Betroffener. Anschließend ging es darum, Unterrichts- und Lernmaterialien auf verschiedenen sprachlichen Niveaus zu entwickeln. Die Workshops und Arbeitsergebnisse sind in einem Handbuch dokumentiert.
„Funktionaler Analphabetismus“ als Querschnittsthema
Gerade im Kontext der Hochschulausbildung von Pädagoginnen und Pädagogen, von künftigen Sozialpädagogen, Weiterbildnern, Lehrern usw. ist es wichtig, für die Probleme funktionaler Analphabeten zu sensibilisieren und mögliche Handlungs- und Förderansätze zu entwickeln. Deshalb wurde das Projekt Alpha-Quali dafür genutzt, um das Thema „funktionaler Analphabetismus“ als Querschnittsthema in den pädagogischen Studiengängen der Universität Erfurt zu etablieren. Studierende in erziehungswissenschaftlichen Bachelor und Master-Studiengängen sowie Lehramtsstudierende hatten so die Möglichkeit, eigene Fragestellungen zu untersuchen, zum Beispiel im Rahmen ihrer Abschlussarbeiten. Die so entstandenen Arbeiten befassten sich beispielsweise mit
- den schriftsprachlichen Anforderungen einer Berufsausbildung,
- den sprachlichen Anforderungen von Formularen, zum Beispiel der Arbeitsverwaltung,
- den Erfolgen von Alphabetisierungsangeboten,
- den Lebenslagen funktionaler Analphabeten und
- den Strategien der Alltagsbewältigung von funktionalen Analphabeten.
Zwei dieser Arbeiten wurden in gekürzter Fassung veröffentlicht (in Heisler/Mannhaupt 2014). Eine der Arbeiten befasste sich mit Alphabetisierungsangeboten für Jugendliche mit Migrationshintergrund im Jugendstrafvollzug. Ihr zentrales Ergebnis: Die Motivation und Ziele der Jugendlichen, im Strafvollzug an Alphabetisierungskursen teilzunehmen, weichen deutlich von den didaktischen Intentionen und Zielen des Lehrpersonals ab. Den Lehrkräften ging es darum, Sprache und Kultur zu vermitteln. Die Jugendlichen wollten Formulare ausfüllen und Hafterleichterungen selbstständig beantragen können. Für sie stand die Funktionalität der Sprache im Haftalltag im Vordergrund. Sie wollten damit ihre Unabhängigkeit von Mitgefangenen erreichen, auf deren Unterstützung sie bis dahin bei der Bewältigung schriftsprachlicher Aufgaben angewiesen waren.
Die Forschungsarbeiten der Studierenden zeigten übereinstimmend, dass es trotz jahrzehntelanger Alphabetisierungsarbeit immer noch zahlreiche Forschungsdesiderata und offene Fragen zu funktionalem Analphabetismus in Deutschland gibt.
Lesen und Schreiben als Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe
Die Projektarbeit machte deutlich, dass es eben nicht ausreicht, sich in der Alphabetisierungsarbeit auf Ausbildung, Beruf und Arbeit zu konzentrieren. Ein Problem liegt gerade darin, dass die berufliche Bildung auf das Bewältigen beruflicher Handlungssituationen fokussiert wird. Lesen und Schreiben wird so in erster Linie funktional, für die Bewältigung von Arbeit und Produktionsprozessen gebraucht. Dabei bilden sie doch auch den Schlüssel zur Teilhabe an Kultur und Gesellschaft.
Deutlich wurde in den Veranstaltungen des Projekts, dass die Bemühungen für das Problem „Analphabetismus“ in unserer Gesellschaft zu sensibilisieren und entsprechende Handlungsansätze zu entwickeln noch am Anfang stehen. Die Projekte des BMBF-Förderschwerpunktes „Arbeitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ haben dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet. In der beruflichen Bildung, auch in der Benachteiligtenförderung hat man das Thema bislang weitgehend übersehen. Haben die Ergebnisse der leo.-Level-One-Studie viele Fachleute und auch politisch Verantwortliche wachgerüttelt, so zeigt doch die Arbeit des Projekts Alpha-Quali auch, dass das Problembewusstsein gerade in Unternehmen noch nicht angekommen ist. Das betriebliche Ausbildungspersonal kann kaum nachvollziehen, was Analphabetismus mit Ausbildung zu tun hat. Arbeitgeber von Un- und Angelernten fühlen sich für das Lernen ihrer Angestellten - trotz des viel besprochenen Fachkräftemangels – offensichtlich nicht zuständig. Das zeigte sich letztlich auch an der geringen Beteiligung von Unternehmen an den angebotenen Workshops und Fachtagungen. Eine der wesentlichen Aufgaben der Zukunft besteht daher in der Aufklärung und Schulung des Personals in Betrieben und Berufsschulen.
Printliteratur
Heisler, D./Mannhaupt, G. (Hrsg.) (2014): Analphabetismus und Alphabetisierung in der Arbeitswelt. Befunde und aktuelle Entwicklungen. Frankfurt a. M. u.a.
Internetressourcen
- BWP@ Ausgabe 24
Eckardt-Hinz, B./Hanisch, H./Heisler, D./Mannhaupt, D. (2013): Funktionaler Analphabetismus als Herausforderung für eine Fachdidaktik Deutsch in der Berufsbildenden Schule. Zur Gestaltung von Fachbüchern für individualisierte, adressatenbezogene Lehr-Lernprozesse