22.06.2015
Zehn Jahre Hartz IV
Eine Erfolgsgeschichte für benachteiligte Jugendliche?
von Gerhard Christe
Im Januar 2005 ist mit der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II ("Hartz IV") die einschneidendste Sozialreform in der Geschichte der Bundesrepublik in Kraft getreten. Nach dem Prinzip "work first" wird seither von Arbeitslosen und erwerbsfähigen Bedürftigen verlangt, als Gegenleistung für materielle Unterstützung Arbeit zu verrichten. Zentrales Motto dieses Paradigmenwechsels in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ist "Fördern und Fordern", mit dem Hilfebedürftigen suggeriert wird, es selbst in der Hand zu haben, ob sie weiterhin hilfebedürftig bleiben oder nicht.
Zehn Jahre Hartz IV scheinen seinen Befürwortern recht zu geben: die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse hat deutlich zugenommen, die Zahl der Arbeitslosen - auch der jugendlichen Arbeitslosen - ist spürbar zurückgegangen, die deutsche Wirtschaft boomt nunmehr seit vielen Jahren. Deshalb wird auch von einem deutschen "Beschäftigungswunder" gesprochen. Die Arbeitsmarktreformen werden hierfür als ursächlich angesehen und Kritik an ihren negativen Nebenfolgen mit dem Verweis auf ihre prinzipielle, überwiegend positive Wirksamkeit zurückgewiesen.
Offene Fragen
Aber ist die Trendwende am Arbeitsmarkt tatsächlich eine Folge der Arbeitsmarktreformen? Sind der Rückgang von Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit und die Zunahme der Beschäftigungsverhältnisse wirklich auf die Hartz-Reformen zurückzuführen? Haben erwerbslose Jugendliche vom "Fördern und Fordern" profitiert? Haben mehr Jugendliche Zugang zu Ausbildung und Beschäftigung gefunden und dauerhaft aus dem Leistungsbezug nach SGB II ausscheiden können? Wurde das bei Einführung von Hartz IV gegebene Versprechen, jedem Jugendlichen ein möglichst individuelles, auf seine persönliche Situation abgestimmtes Ausbildungs-, Arbeits- oder Maßnahmeangebot anzubieten, eingehalten? Konnten benachteiligte Jugendliche in den letzten zehn Jahren tatsächlich eine bessere Lebensperspektive entwickeln?
Ich werde im Folgenden zeigen, dass sich die Einführung von Hartz IV als alles andere als eine Erfolgsgeschichte liest, zumindest nicht für die davon betroffenen Menschen, und schon gar nicht für benachteiligte Jugendliche.
Zur Situation benachteiligter Jugendlicher
Unstrittig ist die Zahl der Arbeitslosen unter 25 Jahren in den vergangenen zehn Jahren deutlich zurückgegangen. Waren 2005 noch rund 15 Prozent der unter 25-Jährigen arbeitslos gemeldet, hat sich diese Zahl bis heute auf rund sechs Prozent mehr als halbiert. Auch die Übergänge ins Duale System haben zu-, die ins Übergangssystem abgenommen, während sich die Ausbildungsplatzsituation gegenüber 2004 nicht verbessert hat.
Trotz günstiger Lage auf dem Ausbildungsmarkt können nach wie vor rund 1,5 Millionen junge Menschen unter 29 Jahren nicht an Ausbildung partizipieren und keinen Abschluss erreichen.
Trotz günstiger Lage auf dem Ausbildungsmarkt können aber nach wie vor rund 1,5 Millionen junge Menschen unter 29 Jahren bisher nicht an Ausbildung partizipieren und keinen Abschluss erreichen. Fast 40 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren, die ALG II beziehen, sind mindestens vier Jahre auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen.
Gründe für die Trendwende am Arbeitsmarkt
Der Rückgang der Arbeitslosigkeit und insbesondere der Zahl arbeitsloser Jugendlicher hat mit "Fördern und Fordern" recht wenig zu tun, er ist vor allem auf die demografische Entwicklung zurückzuführen. Seit Jahren nimmt die Zahl junger Erwachsener ständig ab. Selbst Befürworter und Verteidiger der Hartz-Reformen räumen ein, dass der Beitrag von Hartz IV zur insgesamt positiven Arbeitsmarktentwicklung seit 2005 angesichts vielfältiger weiterer Einflussfaktoren nicht genau zu beziffern ist und es allenfalls einige wenige Hinweise gibt auf positive Impulse der Reform, wie z.B. eine höhere "Matching-Effizienz" (Zusammenfinden von Arbeitsuchenden und offenen Stellen). Ein deutlicher Effekt ist aber vor allem die signifikant gestiegene Konzessionsbereitschaft von Beschäftigten und Arbeitslosen, jedwede Arbeit, ungeachtet der persönlichen Qualifikation, anzunehmen aus Furcht, ansonsten in Hartz IV abzurutschen. Dies ist eine Folge davon, dass die Sanktionsmöglichkeiten und der Zwang zur Annahme ungünstiger und schlechter bezahlter Jobs bis an die Grenze der Sittenwidrigkeit ausgedehnt und noch über die vormaligen Regelungen der Sozialhilfe hinaus erweitert worden sind.
Das "Beschäftigungswunder" ist vor allem ein Effekt der Rentenreform. Außerdem haben die Hartz-Reformen nicht nur die bereits zuvor eingeleitete Ausdehnung von Minijobs, die als ausschließliches Beschäftigungsverhältnis ausgeübt werden, sondern auch die Ausdehnung von Leiharbeit verstärkt. Die Arbeitslosigkeit bzw. die Langzeitarbeitslosigkeit wurde nicht zuletzt auch durch die Förderung prekärer Beschäftigung reduziert. Auch wenn eine intensivere Betreuung auf der individuellen Ebene zu höheren Vermittlungserfolgen führen kann, ist gesamtgesellschaftlich gesehen eher eine Ausgrenzung einer beträchtlichen Zahl von Erwerbsfähigen vom Arbeitsmarkt zu beobachten.
Zusammengefasst ist das "deutsche Beschäftigungswunder" also weniger eine Folge der Hartz-Reformen als vielmehr des demografisch bedingten Rückgangs der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, der Verteilung der Arbeit auf mehr Köpfe und von außerordentlichen Exportüberschüssen. Die Vermittlung in Arbeit wurde beschleunigt, da Arbeitslose aus Angst vor dem Abstieg in Hartz IV fast jeden, auch schlechteren, Job annehmen müssen.
Sanktionen - ein wirksames und sinnvolles Instrument wofür?
Arbeitslose Jugendliche und junge Erwachsene bis 25 Jahre sind besonders im Fokus des SGB II. Sie werden engmaschiger "betreut" und sollen nach §3 Abs. 2 SGB II unverzüglich in Arbeit oder Ausbildung vermittelt werden. Bei so genannten Pflichtverletzungen werden sie gleichzeitig wesentlich strenger sanktioniert als ältere Arbeitlose. Begründet wird dies unter anderem damit, dass Sanktionen unentbehrlich seien für eine konsequente Aktivierung, sie bekräftigten das Gegenleistungsprinzip der Fürsorgeleistung ALG II und seien letztlich sogar im Interesse der Betroffenen selbst. Junge Menschen unter 25 Jahren dürften nämlich nicht frühzeitig die Erfahrung machen, dass ihr Lebensunterhalt dauerhaft durch die Solidargemeinschaft ohne Gegenleistung finanziert werde. Dies würde sie davon abhalten, von Anfang an zu lernen, alle eigenen Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln, um ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches und letztlich auch finanziell unabhängiges Leben führen zu können.
Zahlreiche Untersuchungen zeigen, ein großer Teil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die den Leistungsbezug verlassen haben, ist schon bald wieder auf Unterstützung angewiesen.
Zahlreiche Untersuchungen zeigen indes, dass ein großer Teil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die den Leistungsbezug verlassen haben, schon bald wieder auf Unterstützung angewiesen ist. Ein dauerhafter Ausstieg aus dem Leistungsbezug gelingt nur einem geringeren Teil. Lediglich Jugendliche mit guten schulischen Qualifikationen und Berufsabschluss sowie mit ersten Berufserfahrungen sind bloß vorübergehend auf ALG II angewiesen. Arbeitslose Leistungsempfänger haben dagegen nur geringe Chancen Hartz IV zu verlassen, insbesondere dann, wenn sie langzeitarbeitslos sind. Der Mehrfachbezug von Leistungen erhöht die Wahrscheinlichkeit, auch weiterhin auf ALG II angewiesen zu sein. Nur diejenigen, die den Leistungsbezug wegen der Aufnahme einer Ausbildung oder einer Erwerbstätigkeit verlassen, haben gute Chancen, nicht mehr in den Bezug zurückzukehren.
Gebetsmühlenartig wird gleichwohl immer wieder behauptet und als Begründung für die Aufrechterhaltung der verschärften Sanktionspraxis für Jugendliche angeführt, viele Jugendliche seien nicht bereit, einen Job oder eine Maßnahme anzunehmen, weil für sie das ALG II ein akzeptables finanzielles Auskommen sichere. Diese Behauptung ist empirisch längst widerlegt. Verschiedene Studien zeigen, dass damit eher das Gegenteil erreicht wird und Jugendliche vor allem demotiviert werden.
Manche Juristen gehen sogar noch einen Schritt weiter. So kritisiert zum Beispiel der Verfassungsrechtler Uwe Berlit in einer Expertise für den Deutschen Bundestag diese Begründung für Sanktionen. Er betont, dass der Gesetzgeber keinen verfassungsrechtlichen Freibrief habe, "praktisch jede pseudopädagogische Stammtischweisheit in Gesetzesform zu gießen". Im Übrigen sei die verschärfte Sanktionierung junger Hilfebedürftiger gleichheitswidrig.
Auch kritisiert Berlit, dass eine intensivere Betreuung für sich allein nicht eine schärfere Sanktionierung rechtfertige. Sozialrechtsverhältnisse seien Rechtsverhältnisse und keine personalisierten Dankbarkeitsbeziehungen. Die intensivere Betreuung erhöhe allerdings die Wahrscheinlichkeit und Häufigkeit verhängter Sanktionen; sie schaffe mehr Sanktionsanlässe. Dies sei auch der Grund für die signifikant höhere Sanktionsquote junger Hilfebedürftiger.
Förderung der Eigenverantwortung?
Im Jahr 2006 wurde das SGB II dahin gehend geändert, dass Jugendliche unter 25 Jahren nur mit Zustimmung des zuständigen Jobcenters aus der elterlichen Wohnung ausziehen dürfen. Auch dies kritisiert Berlit mit der Begründung, die fiskalisch motivierte, räumliche wie finanzielle Bindung an die erweiterte elterliche Bedarfsgemeinschaft bis zur Vollendung des 25. Lebensjahrs widerspreche dem Ziel, die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zu stärken.
Auch eine empirische Untersuchung der Arbeitssoziologin Brigitte Schels hat keine Belege dafür erbracht, dass der längere Leistungsbezug die Bereitschaft zur Eigenverantwortung untergräbt und Jugendliche sich im Leistungsbezug einrichten. Dies gelte sogar dann, wenn es durch Entmutigung und Diskriminierung zum Rückzug vom Arbeitsmarkt kommen kann. Gerade benachteiligten Gruppen sei es kaum möglich, unter den herrschenden Arbeitsmarktbedingungen eine bedarfsdeckende Arbeit oder Ausbildung mit Perspektive aufzunehmen. Damit stelle sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Leistungsgewährung, die an Verhaltenserwartungen geknüpft ist, deren Nichterfüllung zu finanziellen Sanktionen führt. Andauernder Hilfebezug lasse sich weniger mit Verhaltensdefiziten, sondern vor allem mit einer geringen Qualifikation, einem missglückten Übergang von der Schule ins Erwerbsleben sowie einer Herkunft aus armen Familien erklären.
Der Erfolg einer Work-First-Strategie, die Jugendliche oft in unpassende, schlecht entlohnte oder temporäre Tätigkeiten ohne längerfristige Perspektive drängt, ist ebenso zweifelhaft wie die wenig zielgerichtete Zuweisung zu Maßnahmen. Dies gilt auch für die Zuweisung zu Arbeitsgelegenheiten, die gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen besonders häufig erfolgt. Diese Angebote haben oft einen stigmatisierenden Charakter, zudem wird hiermit die Wahrscheinlichkeit, in eine reguläre Beschäftigung einzumünden, reduziert. Arbeitsgelegenheiten haben erwiesenermaßen keine positiven Eingliederungswirkungen, auch nicht auf Ausbildung.
Resümee
Die Ziele des Umbaus von Sozialstaat und Arbeitsförderung sind hoch gesteckt gewesen. Insbesondere sollte eine "ganzheitliche Betreuung" und bessere Kombination von Arbeitsförderung und sozialen Hilfen eröffnet und eine Leistung "aus einer Hand" sichergestellt werden. Stattdessen hat eine nur kurzfristige Eingliederung Vorrang erhalten vor einer aktiven, auf stabile Integration ausgerichteten Förderung. Bei der Eingliederung wird vor allem auf individuelle Verhaltensänderungen und auf stärkeren Druck gesetzt. Die Sanktionsmöglichkeiten und der Zwang zur Annahme auch wenig anspruchsvoller und schlecht bezahlter Jobs wurden in entwürdigender Weise ausgeweitet.
Zehn Jahre nach Einführung von Hartz IV sind immer noch mehr als sechs Millionen Menschen auf Hilfen zur Sicherung des Existenzminimums angewiesen. Der Niedriglohnsektor ist gewachsen wie in keinem anderen europäischen Land, in ihm ist nahezu jeder vierte Beschäftigte tätig. Die Zahl der erwerbstätigen Armen ist angestiegen auf rund 1,3 Millionen Menschen, die Zahl armer Kinder hat sich seit 2005 bis heute auf ca. 2,8 Millionen mehr als verdoppelt. Hinzu kommen immaterielle Schäden, seelische Verwundungen und Veränderungen im Alltagsbewusstsein, besonders bei den von Hartz IV Betroffenen.
Dem Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge zufolge hat die "Hartz-Gesetzgebung" Deutschland mitsamt seinem Wohlfahrtsstaat, seiner (sozial)politischen Kultur und seinem jahrzehntelang auf Konsens orientierten gesellschaftlichen Klima viel stärker verändert als manche parlamentarische Weichenstellung der Nachkriegszeit.
Die problematischen Auswirkungen des neu geschaffenen arbeitsmarktpolitischen Flickenteppichs zeigen sich exemplarisch bei der Ausbildungsvermittlung junger Menschen.
Die problematischen Auswirkungen des neu geschaffenen arbeitsmarktpolitischen Flickenteppichs zeigen sich exemplarisch bei der Ausbildungsvermittlung junger Menschen. So können die (armen) Kinder von Hartz-IV-Empfängern zwar die Berufsberatung der Arbeitslosenversicherung aufsuchen, bei der konkreten Vermittlung einer Ausbildungsstelle werden sie vom Gesetz aber auf die Ansprechpartner des Fürsorgesystems verwiesen. Eine eindeutige und personell stabile Begleitung von Jugendlichen beim Eintritt ins Ausbildungssystem ist nur selten gewährleistet, auch wenn in der Praxis teilweise versucht wird, untergesetzliche Vereinbarungen zu treffen. Inwiefern Jugendberufsagenturen durch eine bessere Kooperation unterschiedlicher Institutionen zu einer besseren Förderung und Integration benachteiligter junger Menschen beitragen werden, bleibt abzuwarten.
"Fördern und Fordern" war das Motto der Reformen, aber es wird zu wenig gefördert. Die Mittel für die Förderung von Arbeitslosen sind weitaus stärker gekürzt worden als die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist. Dies führt in der Praxis dazu, dass eher kurzfristige Maßnahmen angeboten werden. Folge hiervon ist, dass bei abnehmender Arbeitslosigkeit eher diejenigen zurückbleiben, die eine stärkere Förderung brauchen würden. Die "Aktivierung" von Arbeitslosen (das "Fordern") hat Wirkungen nur bei denjenigen, die reale Handlungsmöglichkeiten haben, also den besser Qualifizierten, den Gesunden und den eher nur kurzzeitig Arbeitslosen. Bei Langzeitarbeitslosen und anderen dem Arbeitsmarkt fern stehenden Personen hat der Aktivierungsansatz kläglich versagt. Für diese bräuchte man eine "Arbeitsmarktpolitik der Befähigung", d.h. man müsste sie dabei unterstützen, ihre realen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern.
Notwendig ist auch, den im SGB II vorgeschriebenen Vorrang für Qualifizierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen stärker als bisher auf vollqualifizierende Ausbildungen zu konzentrieren und Unterstützungskonzepte für benachteiligte junge Menschen wie für Betriebe zu entwickeln. Unerlässlich ist zudem, Anreize gerade bei benachteiligten Jugendlichen durch positives Motivieren statt durch Bestrafen zu schaffen.