30.08.2016
Zur Weiterentwicklung von Werkstätten für behinderte Menschen unter Inklusionsanspruch
von Bastian Fischer und Thomas Gericke
Die Vermittlungsquote von Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ist schwindend gering, Inbetriebnahmen neuer WfbM nehmen zu, ebenso die Plätze der WfbM-Beschäftigten. Mit Blick auf diese empirischen Tatsachen kann die vom UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen geforderte "schrittweise Abschaffung der Werkstätten durch sofort durchsetzbare Ausstiegsstrategien und Zeitpläne" als eine logische Konsequenz gelesen werden, wenn in Deutschland inklusive Verhältnisse – auch in WfbM – nachhaltig entstehen sollen. Gegenstand dieses Gastbeitrages ist die Frage nach Möglichkeiten der Umgestaltung institutioneller Realitäten in WfbM und vor allem die Frage nach einer veränderten Praxis im Sinne eines bottom-up-Prozesses.
Denkt man Inklusion von Grund auf, so ergibt sich daraus der Anspruch, eine Praxis der Exklusion und Separation zu überwinden und über Prozesse der Integration inklusive gesellschaftliche Verhältnisse zu realisieren. Damit sind prozessorientierte Transformationen auf unterschiedlichen Ebenen (gesamtgesellschaftlich, politisch, rechtlich, institutionell/organisatorisch, strukturell, kulturell und praktisch) angezeigt und keine dem aktuellen Inklusionsdiskurs anhaftenden interessengeleiteten Interpretationen und Umformungen des Inklusionsbegriffs, die auf eine Erhaltung des Status quo im Sinne "alten Weins in neuen Schläuchen" abzielen. Was heißt dieses Inklusionsverständnis nun für WfbM in Zeiten der Inklusion?
Vermittlungsquote unter 1 Prozent
Offensichtlich konstituiert sich die Praxis in WfbM weniger über Teilhabe- und Partizipationsprozesse als vielmehr über Ausschluss- und Isolationsverhältnisse: Die Vermittlungsquote von WfbM auf den Allgemeinen Arbeitsmarkt beläuft sich, je nach Quelle, zwischen 0,1 bis 0,6 Prozent, die Inbetriebnahme neuer WfbM steigt im Zeitraum von 2002-2014 um 58 auf insgesamt 726 kontinuierlich an. Dies gilt ebenso für die Plätze der WfbM-Beschäftigten, die längst die Zahl von 300.000 im Jahr 2014 überschritten haben. Empfehlungen des UN-Fachausschusses, der unter anderem "die schrittweise Abschaffung der Werkstätten durch sofort durchsetzbare Ausstiegsstrategien und Zeitpläne" fordert, können als eine logische Konsequenz gelesen werden, wenn in Deutschland inklusive Verhältnisse, wie zum Beispiel im Bereich "Arbeit und Beschäftigung", nachhaltig entstehen sollen.
Fokus dieses Gastbeitrages sind weniger politische oder rechtliche Fragen der Inklusion in WfbM als vielmehr integrative Praxen, um notwendige Veränderungsprozesse anzustoßen, will sich die Organisation WfbM in Richtung Inklusion weiterentwickeln. Es stellt sich demzufolge die Frage nach der Praxis in WfbM, als Möglichkeit der Umgestaltung institutioneller Realitäten im Sinne eines bottom-up-Prozesses.
Unterschiede zwischen einzelnen Werkstätten und Modellversuchen zeigen, dass Übergänge aus WfbM auf den allgemeinen Arbeitsmarkt keine Einzelfälle sein müssen, sondern für Beschäftigte in einer WfbM eine reale Option darstellen können. Sowohl in der Förderpraxis von WfbM als auch in der Kooperation von WfbM mit den regionalen Akteuren finden sich bereits Ansätze und Strategien, die auf eine größere Dynamik bei den Übergängen aus WfbM auf den allgemeinen Arbeitsmarkt gerichtet sind.
Eine Studie im Land Brandenburg zur Gestaltung von Übergängen aus WfbM auf den Allgemeinen Arbeitsmarkt bestätigt, dass Übergänge selten sind. Markant ist dennoch: Die Mehrzahl der WfbM im Land Brandenburg hat die Gestaltung von Übergängen zunehmend als Aufgabe angenommen. In diesem Zusammenhang lassen sich drei Typen von Werkstätten erkennen:
- WfbM mit Betonung des Sicherheitsaspektes,
- WfbM, die den Übergang re-aktiv unterstützen,
- WfbM mit starker Orientierung auf den Übergang.
Nachhaltige Veränderungen sind nötig
WfbM mit Betonung des Sicherheitsaspektes haben keine konkreten Strategien, Konzepte oder Instrumente zur Gestaltung eines Übergangsmanagements. Vielmehr werden Teilhabeprozesse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als Risiko für eine "gesunde" Persönlichkeitsentwicklung des Menschen mit Behinderung angesehen.
Für das Handeln von WfbM, die den Übergang re-aktiv unterstützen, ist die Offenheit gegenüber Übergängen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt und die fallbezogene Unterstützung der Beschäftigten, die dieses Ziel verfolgen kennzeichnend. Förderpraktisch umgesetzt wird bei diesen WfbM lediglich die Durchführung jährlicher Fähigkeitsanalysen oder WfbM-interner Weiterbildungen.
Bei WfbM mit starker Orientierung auf den Übergang ist die Praxis dadurch gekennzeichnet, dass die Gestaltung von Übergängen in Richtung Arbeitsmarkt im professionellen Selbstverständnis verankert, zentrale Aufgabe und Ziel der WfbM ist. Prinzipien pädagogischer Arbeit sind vornehmlich gekennzeichnet durch Selbstbestimmung, berufliche Teilhabe und eine integrativ-fördernde Praxis. Engmaschige und kriteriengeleitete Förderkonzepte (Orientierungs-, Qualifizierungs- und betrieblichen Phase) bereiten auf Übergänge vor und begleiten diese und fokussieren damit auf eine optimale Passung von Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Bei diesen WfbM gibt es darüber hinaus personelle Zuständigkeiten für die berufliche Integration/ Inklusion der WfbM-Beschäftigten.
Bei Werkstätten mit starker Orientierung auf den Übergang ist die Gestaltung von Übergängen in Richtung Arbeitsmarkt im professionellen Selbstverständnis verankert.
Im Vergleich zur Praxis der WfbM mit starker Orientierung auf den Übergang mit anderen im deutschen Raum agierenden WfbM, die sich ebenso auf den Weg in Richtung Inklusion machen, wird deutlich, dass sich grundständige Aspekte der oben skizzierten Förderpraxis widerfinden. Deutlich wird dabei aber auch, dass WfbM sich als Organisation nachhaltig verändern müssen, wenn sie sich tatsächlich auf den Weg von der Separation über die Integration hin zur Inklusion machen wollen. Forderungen aus dem Fachdiskurs, dass WfbM sich in inklusiven Zeiten stärker auf Qualifizierungs- und Beschäftigungsangebote zwischen WfbM und dem allgemeinen Arbeitsmarkt fokussieren sollten, kann lediglich einen ersten Schritt darstellen, an den sich sukzessive weitere Schritte der Organisationsentwicklung von Einzelwerkstätten anschließen müssen, ist das langfristige Ziel einer WfbM Arbeit und Beschäftigung unter Inklusionsanspruch.
Potenzialentfaltung forcieren
Eine Orientierung zur Reflexion und Gestaltung von Organisationsentwicklungsprozessen kann, auch für WfbM, der Index für Inklusion darstellen. Holzschnittartig werden nachfolgend einige Notwendigkeiten aufgezeigt, die für eine inklusionsorientierte Weiterentwicklung einer WfbM auf kultureller, struktureller und praktischer Ebene ausschlaggebend sind.
Ein gemeinsam verhandeltes Selbstverständnis der Organisation WfbM, welches sich durch handlungsleitende Prinzipien wie Ganzheitlichkeit, Kompensation und pädagogischer Optimismus auszeichnet, kann die Perspektive auf behinderte Menschen verändern. Ganzheitliches Denken nimmt den Menschen als bio-psycho-soziales Person-System wahr, orientiert sich auf den Sozialraum und überwindet eine Fokussierung auf Schädigungen oder physische, psychische und geistige Behinderungen.
Die sich daraus ergebende notwendige Konsequenz der sozialen Kompensation von Schädigung und Behinderung eröffnet den Blick auf Fähigkeiten, Kompetenzen und Ressourcen und ermöglicht die Gestaltung subjektorientierter Bildungsangebote, die die Entfaltung von Potentialen in den Mittelpunkt pädagogischen Tuns rücken. Die Potentialentfaltung von Menschen (mit Behinderung) in Bildungs- und Fördersettings zu forcieren und die neuronale Plastizität des Gehirns verstanden als soziales Organ, sowie die damit verbundene grundsätzliche Lern- und Entwicklungsfähigkeit eines jeden Menschen, begründen pädagogischen Optimismus.
Persönliche Weiterentwicklung ermöglichen
Mit einer derartigen Menschenbildperspektive sind praktische Konsequenzen bereits skizziert. Voraussetzung für die Gestaltung subjektorientierter pädagogischer Bildungsangebote ist ein diagnostisches Vorgehen, welches über die Erstellung von persönlichen Fähigkeitsprofilen hinausgeht und mit dem Terminus "Persönliche Zukunftsplanung (PZP)" überschrieben werden kann. Dies realisiert sich unter Inklusionsanspruch nur unter Beachtung folgender Leitprinzipien:
- Partizipation, durch die aktive und wertschätzende Teilnahme des WfbM-Beschäftigten als Hauptperson.
- Person- und Subjektorientierung, indem die Wünsche und Ziele des WfbM-Beschäftigten erhoben werden sowie handlungsleitend sind und nicht die Interessen der Institution.
- Entwicklungsorientierung, indem die Zone der aktuellen Entwicklung des WfbM-Beschäftigten ermittelt wird und Lern- und Bildungsangebote auf die Zone der nächsten Entwicklung orientiert sind.
- Kompetenzorientierung, indem die Fähigkeiten, Interessen und personalen sowie sozialen Ressourcen des WfbM-Beschäftigten fokussiert werden.
- Systemorientierung, durch die Hilfe und Begleitung während und nach der persönlichen Zukunftsplanung durch einen Unterstützerkreis.
- Gemeinwesen- und Sozialraumorientierung, durch den Einbezug von peers, relevanten Akteuren und weiteren unterstützenden Institutionen.
Eine subjektorientierte pädagogische Praxis heißt aber auch: für WfbM-Beschäftigte, die sich in der WfbM aktuell wohl fühlen und sich eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur schwer vorstellen können, echte Wahlmöglichkeiten zu schaffen. Damit ist eine umfassende Sensibilisierung, Aufklärung und Beratung in Form von Personalentwicklungsgesprächen (z.B. über Methoden der PZP) verbunden. Die Eröffnung von Möglichkeitsräumen zur persönlichen Weiterentwicklung (Persönlichkeitsbildung) muss Anspruch professioneller Praxis sein – auch für WfbM!
Weg und Ziel einer WfbM auf struktureller Ebene sollte sein, das gestufte Rehabilitationssystem zu verlassen, denn der Problemfokus ist auf aussondernde Strukturen und nicht auf den behinderten Menschen zu richten. Handlungsleitend sollte auch hier eine sukzessive Weiterentwicklung der Einzelwerkstatt sein, wie zum Beispiel ein sozialraumorientierter Ausbau von Außenarbeitsplätzen, die Etablierung von Integrationsprojekten und –unternehmen oder virtuellen Werkstätten. Jedoch ist dies nur dann inklusionsverträglich, wenn beispielsweise eine virtuelle WfbM eben nicht als Angebotserweiterung einer Werkstatt verstanden wird, sondern als erster möglicher Schritt zur Organisationsentwicklung in Richtung Inklusion.
Werkstatt neu denken
Ergänzend dazu sind, um auf der Praxisebene Übergänge in Richtung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu verbessern, Assistenzmodelle im Kontext von Arbeit und Beschäftigung auf der Strukturebene zu forcieren. Damit ist der Ansatz der Unterstützten Beschäftigung angesprochen, welcher sich durch den Leitsatz "erst platzieren, dann qualifizieren" und durch die Begriffe "echte" Selbstbestimmung, Potentialentfaltung, Sozialraumorientierung, Dekategorisierung und individualisierte und flexible assistierte Unterstützung auszeichnet. Unterstützte Beschäftigung ist nicht nur ein wirkungsvoller Ansatz der beruflichen Integration, sondern bietet auch die Chance einen nachhaltigen Wechsel zum integrativen Paradigma bei der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung herbeizuführen, was zu einer veränderten Praxis führen kann.
Die Integration eines behinderten Menschen muss als Organisationsentwicklungsprozess gedacht sowie professionell begleitet und umgesetzt werden.
Weiteres Potential für eine inklusionsorientierte Praxis birgt das Budget für Arbeit in sich, welches in unterschiedlichen Bundesländern bereits nachhaltige Erfolge bei der Integration von voll erwerbsgeminderten behinderten Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt gezeigt hat und im neuen Bundesteilhabegesetz (BTHG) ab dem 1. Januar 2018 bundeseinheitlich geregelt werden soll. Im Rahmen des Persönlichen Budgets kann das Budget für Arbeit beantragt werden, auch wenn der behinderte Mensch nicht in einer WfbM beschäftigt ist. Es umfasst unbefristete Lohnkostenzuschüsse an den Arbeitgeber, die auf 75 Prozent der Entlohnung begrenzt sind und 40 Prozent der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IX, wobei durch Landesrecht von dem Prozentsatz der Bezugsgröße abgewichen werden kann.
Die Begleitung durch Assistenten und ggf. Unterstützung durch technische Hilfsmittel am Arbeitsplatz sind weitere wichtige Bausteine des Budgets. Ebenso soll ein zeitlich unbeschränktes Rückkehr- bzw. Aufnahmerecht in eine WfbM gewährleistet werden. Das Budget für Arbeit kann zu einem Instrument transformierender Praxis in WfbM werden, wenn es nicht nur punktuell, sondern übergreifend zur Anwendung kommt sowie zur erweiterten Handlungsfähigkeit des behinderten Menschen und damit zu dessen Teilhabe/ Partizipation an der Arbeitswelt beiträgt.
Wie Betriebe und Unternehmen als Arbeitgeber für Menschen mit Behinderungen - auch aus Werkstätten – zu gewinnen sind, musste hier vernachlässigt werden. Schlussendlich muss die Integration eines behinderten Menschen ebenfalls als Organisationsentwicklungsprozess gedacht sowie professionell begleitet und umgesetzt werden.
WfbM unter Inklusionsanspruch weiterzuentwickeln hieße in Anlehnung an Stefan Doose, die "Werkstatt neu zu denken (...) und einen Kulturwandel von einrichtungsbezogenen zu personenzentrierten Dienstleistungen mit vielfältigen Unterstützungsangeboten im Gemeinwesen zu vollziehen. Es stellt sich die Identitätsfrage, welche Rolle Werkstätten künftig bei der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen im Gemeinwesen spielen wollen".
Literaturhinweise
- Landesamt für Soziales und Versorgung des Landes Brandenburg (2015): Rahmenbedingungen für den Übergang aus Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM) auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Untersuchung der Beschäftigungssituation in WfbM im Land Brandenburg. Endbericht. Autoren: Jörn Sommer, Thomas Gericke, Bastian Fischer, Miguel del Estal. Cottbus.
- Jödecke, M. (2008). Ganzheitlichkeit, Kompensation und pädagogischer Optimismus – Ein Versuch mit Wygotski über Wygotski hinauszugehen. In: Ziemen, K. (2008) (Hrsg.) Reflexive Didaktik. Annäherung an eine Schule für alle (S. 147-160) Oberhausen: Athena Verlag.
- Doose, S. (2005). Übergänge aus den Werkstätten für behinderte Menschen in Hessen in Ausbildung und Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Verbleibs- und Verlaufsstudie der von Fachkräften für berufliche Integration (FBl) der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) in Hessen in Ausbildung und Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelten Menschen mit Behinderungen. Hrsg.: Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen in Hessen e.V., Frankfurt 2005
- Doose, S. (2012). Unterstützte Beschäftigung: Berufliche Integration auf lange Sicht. Theorie, Methodik und Nachhaltigkeit der Unterstützung von Menschen mit Lernschwierigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Eine Verbleibs- und Verlaufsstudie, 3. aktualisierte und vollständig überarbeitete Auflage. Marburg: Lebenshilfe Verlag.
- Doose, S. (2013). Berufliche Integration auf lange Sicht? – Stand und Perspektiven der beruflichen Integration von Menschen mit Lernschwierigkeiten. In: Zeitschrift für Inklusion 3/2013. Abrufbar unter: www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/4/4 [23.08.2016]