04.09.2013

Wie eine echte Firma

Praxisbericht zum Hamburger Produktionsschulprogramm

von Sven Deeken

Die Herstellung und der Vertrieb marktfähiger Produkte erfordern professionelles Handeln und fördern das Selbstbewusstsein und die Selbständigkeit. Diese Erkenntnis und gute Erfahrungen aus Dänemark machen sich die Produktionsschulen zu Nutze, die nach wie vor einen bundesweiten Zuwachs verzeichnen. In Hamburg sind sie zentraler Bestandteil eines umfassenden Konzepts zur Verbesserung des Übergangs von der Schule in den Beruf.

Ob Altonas Vergangenheit und die historische Verbindung mit Dänemark etwas mit der Einrichtung der ersten Hamburger Produktionsschule nach Dänischem Vorbild zu tun haben? Schließlich war Altona seit 1640 Teil des Herzogtums Holstein und stand damit für gut zwei Jahrhunderte unter Dänischer Verwaltung.

Zumindest gründete sich Hamburgs erste Produktionsschule 1999 im Stadtteil Altona nach dänischem Vorbild. Seitdem wird dort jährlich 45 bis 50 Jugendlichen die Möglichkeit geboten, sich in einer Kombination aus Unterricht und Praxis auf eine Berufsausbildung vorzubereiten. Die Jugendlichen haben die Gelegenheit, in den schulischen Werk- und Produktionsstätten (Medien- und Grafikwerkstatt, Tischlerei und Lackiererei, Küche und Kantine) hochwertige Waren und Dienstleistungen herzustellen, die zu marktüblichen Preisen angeboten werden können. Der professionelle Anspruch beschränkt sich nicht nur auf die reine Produkterstellung, sondern auch auf Akquise, Kalkulation, Erstellung von Angeboten und Termintreue. "Nebenbei" gelingt es ca. 60 Prozent der Jugendlichen, den Hauptschulabschluss nachzuholen.

Bild: Stadt Hamburg

Die Kombination von praxisbezogenem Unterricht, Betriebspraktika und Werkstattarbeit mit Ernstcharakter erfährt zunehmend Zuspruch als ein erfolgversprechender Weg zu einem gelingenden Übergang in eine Berufsausbildung - und damit zur beruflichen und sozialen Integration von benachteiligten Jugendlichen. Ausdruck davon ist die seit den 1990er Jahren steigende Zahl der Produktionsschulen in Deutschland.

Hamburg: In jedem Bezirk eine Produktionsschule

In Hamburg befanden sich 2008 knapp 10.000 Schülerinnen und Schüler im so genannten Übergangssystem zwischen Schule und Arbeitswelt. Insbesondere Jugendliche mit und ohne Hauptschulabschluss blieben dort oft in mehreren aufeinander folgenden Maßnahmen ohne sinnvolle Perspektive. Eine Besserung war nicht in Sicht. Also wurde die Stadt Hamburg 2009 aktiv: Sie verfasste das "Rahmenkonzept für die Reform des Übergangssystems Schule-Beruf", mit der Konzentration auf Jugendliche ohne hinreichende Ausbildungs- und Betriebsreife. Wichtiger Baustein dieses reformierten Übergangssystems: Die Einrichtung von Produktionsschulen in freier Trägerschaft, angeknüpft an die Erfahrungen vor allem in Dänemark und in Altona.

In seiner Bedeutung kaum zu überschätzen ist der Parlamentsbeschluss der Hamburger Bürgerschaft, schrittweise in allen Hamburger Bezirken Produktionsschulen einzurichten. Mit diesem Beschluss wurde 2009 ein deutliches Zeichen des politischen Willens zur Einrichtung der Produktionsschulen gesetzt, so die Fachreferentin in der Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung, Dr. Cortina Gentner. Mit dem Beginn des Schuljahres 2013/14 sind nunmehr acht Produktionsschulen in freier Trägerschaft in allen Bezirken Hamburgs vorhanden.

Die Einrichtung von Produktionsschulen erfolgt - nach einem mehrstufigen Auswahlverfahren durch die Hamburger Behörde - auf der Grundlage ihrer eingereichten Konzepte. Diese werden regelmäßig aktualisiert. Zwar können die teilnehmenden Jugendlichen auch Lernangebote zum Nachholen fehlender Schulabschlüsse absolvieren. In erster Linie konzentrieren sich die Produktionsschulen jedoch auf die Förderung, Entwicklung und Stärkung der beruflichen Handlungsfähigkeit der Jugendlichen - nicht zuletzt, um die Verweildauer und die Anzahl der Warteschleifen der Jugendlichen im Übergangssystem zu reduzieren.

Werkstatt als zentraler Lernort

Statt des Klassenraums, wie im "normalen" schulischen Alltag, steht in der Produktionsschule die Werkstatt als zentraler Lernort im Mittelpunkt. Auf die Gestaltung der Werkstätten und Räume wird dabei besonders Wert gelegt, denn eine ansprechende und individuell förderliche Lern- und Arbeitsumgebung beeinflusst Sozial- und Lernverhalten sowie das Wohlbefinden der Menschen. Auch die Standorte von Produktionsschulen - in der Regel gewerblich genutzte Gebäude - haben mit Schulen im herkömmlichen Sinne nichts zu tun. So wird deutlich, dass es sich bei Produktionsschulen um "ein alternatives Angebot abseits vom Schulalltag handelt", betont  Cortina Gentner.

Ebenso förderlich wirkt eine von persönlichen Beziehungen und einem vertrauensvollen Miteinander geprägte Atmosphäre, um den Jugendlichen einen ganz neuen Zugang zu Arbeiten und Lernen zu ermöglichen. Gelingen kann dies, weil die pädagogischen Fachkräfte, die in vielen Fällen mehrere Professionen vorweisen können, als praktisch kompetente und vertrauenswürdige Menschen wahrgenommen werden.

Die Produktionsschulen haben den Anspruch, für jede und jeden Jugendlichen die Verantwortung bis zur erfolgreichen Einmündung in eine Ausbildung bzw. sinnvolle Anschlussmaßnahme zu übernehmen.

 

Mit ihrer Hilfe sind die Jugendlichen an der Entwicklung, Herstellung und Vermarktung von Produkten und Dienstleistungen beteiligt, in der Regel in mindestens drei Berufsfeldern. Stetige berufliche und betriebliche Erfahrungen und erste Erfolgserlebnisse fördern das Verantwortungs- und Selbstbewusstsein sowie die Selbständigkeit der Jugendlichen. Sie lernen, die Betriebsabläufe, den Materialbedarf und die notwendigen Arbeitsstunden im Blick zu haben und mit den "Kolleginnen und Kollegen" abzustimmen. Wer womöglich schwänzt, gefährdet vielleicht den Produktionsprozess und Liefertermine.

Hilfreich mag auch sein, dass die nach transparenten Kriterien festgelegte "Entlohnung" nicht nur vom Vermarktungserfolg der Produkte und Dienstleistungen abhängig ist, sondern auch von der geleisteten Arbeit und vom regelmäßigen Schulbesuch der Jugendlichen.

Schülerinnen und Schüler, die sich zur Aufnahme in einer Produktionsschule bewerben, kommen freiwillig und in der Regel motiviert. Ihnen ist klar, dass sie hier eine - vielleicht letzte - Chance zum Eintritt in den Arbeits- bzw. Ausbildungsmarkt erhalten können. Die Dauer des Schulbesuchs richtet sich nach den individuellen Erfordernissen, in der Regel beträgt sie ein Schuljahr.

Anschluss für alle

Die Produktionsschulen haben den Anspruch, für jede und jeden Jugendlichen die Verantwortung bis zur erfolgreichen Einmündung in eine Ausbildung bzw. sinnvolle Anschlussmaßnahme zu übernehmen. Dazu haben sie besonders die Kompetenzentwicklung der Jugendlichen im Blick. Mit bewährten oder neu entwickelten Instrumente (z.B. Kompetenztafeln, Power-Check) kann der Kompetenzzuwachs bei den Jugendlichen erhoben und dokumentiert werden. Individuelle Berufswege- und Lernentwicklungsplanungen werden regelmäßig ausgewertet, reflektiert und fortgeschrieben.

Alle Produktionsschulen weisen ein internes Qualitätsmanagement auf und führen trägerinterne, standortspezifische Evaluationen durch. Die externe Qualitätssicherung im Rahmen ihrer fachliche Steuerung und Verantwortung übernimmt die Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung. Jährliche einrichtungsbezogene Zielvereinbarungen zwischen Behörde und Produktionsschule dienen der Evaluation und Erfolgskontrolle.

Die Jugendlichen erlangen durch den Besuch der Produktionsschule nicht automatisch eine Berufsausbildung - auch wenn es gelungen ist, die angestrebten 60 Prozent der Absolventinnen und Absolventen der Produktionsschulen unmittelbar in das Anschlusssystem zu integrieren (Ausbildung, Beschäftigung oder Weiterqualifizierung). Damit haben abgehende Jugendliche zwar eine bessere Perspektive als andere gleichaltrige Jugendliche, gesichert ist sie aber nicht.

Praktische Beispiele für die Umsetzung des Konzeptes


Produktionsschule Barmbek: Maritime Welten

Seit 2009 existiert die Produktionsschule Barmbek. Unter dem Label "Maritime Welten" werden u.a. kleine Wasserfahrzeuge produziert, u.a. Stand-up Paddelboards (SUP) und Kajaks, darüber hinaus auch Longboards (längere Skateboards). Neben Reparaturarbeiten werden auch neue Typen der Wassersportgeräte geplant und entworfen. Die unterschiedlichen Überlegungen und Ideen werden im Team besprochen, Lösungen und Entscheidungen diskutiert und verworfen und ein gemeinsamer Konsens gesucht. Ein solcher Prozess erfordert von allen Beteiligten, Jugendlichen und Werkstattpädagogen, ein hohes Maß an sozialer Kompetenz. Zur Herstellung von Positiv- und Negativ-Formen benötigen die Jugendlichen Kenntnisse und Fähigkeiten der Holz- und Kunststoffbearbeitung, aber eben auch Kreativität und viel Fach-Mathematik, vor allem Volumen-, Flächen- und Prozentberechnung.

Die Produkte werden über die Werkstatt "Kontor" vertrieben. Dazu eignen sich die Jugendlichen Kenntnisse über das Bestellwesen und Lagerlisten, über Materialkunde und kaufmännisches Rechnen sowie Sicherheit im Umgang mit Lieferanten, Geschäftspartnern und Kunden an. Vor allem aber vermarkten sie die Produkte.


Produktionsschule Wilhelmsburg - Die Manufaktur

Die Produktionsschule in Wilhelmsburg, in Trägerschaft der "BI Beruf und Integration Elbinseln gGmbH", bietet produktorientiertes Arbeiten und Lernen in den Berufsfeldern Metall, Holz, Gastronomie und Einzelhandel. Neben der praktischen Arbeit nehmen die Jugendlichen am praxisbezogenen Unterricht teil. Die Werkstatt- und Teamleiterinnen und -leiter wissen, dass die Jugendlichen nicht nur handwerkliche Fähigkeiten, sondern auch soziale Kompetenzen benötigen. In der Gastronomie etwa sind Pünktlichkeit und Fleiß gefragt, denn die zu versorgenden Schülerinnen und Schüler einer benachbarten Schule kommen rechtzeitig nach Schulschluss, und mit großem Hunger.

Ihre Fortschritte können die Jugendlichen jederzeit an der aushängenden Kompetenztafel ablesen: unterschiedliche Farben geben Auskunft darüber, in welchen Kompetenzen sie schon richtig gut sind, wo sie auf einem guten Weg sind oder auch, welche Kompetenzen noch trainiert werden müssen. Neben den fachlichen (z.B. Arbeitsschutz, Arbeitsorganisation, Holzkunde) werden Kompetenzen wie Anwesenheit, Pünktlichkeit, Respekt/Teamfähigkeit erhoben - etwas, was viele Jugendliche erst noch lernen müssen. Auch das das Arbeiten nach Anweisungen ist zunächst nicht jedermanns Sache, gelingt aber oft nicht zuletzt dank der intensiven Hinwendung durch die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Die Produkte der Manufaktur werden im schuleigenen Laden der Produktionsschule verkauft. Geführt wird der Laden von Jugendlichen, als Vorbereitung auf eine Ausbildung als Einzelhandelskaufleute. Über diesen Vermarktungsweg erfahren die Jugendlichen, dass ihre Arbeit wertgeschätzt wird, dass jemand Geld für ein von ihnen hergestelltes Produkt bezahlt, dass eine Nachfrage besteht - ein weiterer Motivationskick auf dem Weg zur Ausbildungsreife.