21.06.2022 | Redaktion
Jugendarmut: zu wenig beachtet
Gastbeitrag des Armutsforschers Christoph Butterwegge für jugendgerecht.de
"Obwohl die Armut primär Heranwachsende und junge Erwachsene trifft, wird das Problem der sich ausbreitenden und verfestigenden Jugendarmut in Fachwissenschaft, Politik und (Medien-)Öffentlichkeit eher stiefmütterlich behandelt." In einem Gastbeitrag für das Portal jugendgerecht.de untersucht der Armutsforscher Christoph Butterwegge die Ursachen von Jugendarmut und die Corona-bedingte Verschärfung der sozialen Ungleichheit. Er fordert ein integriertes Gesamtkonzept und eine politisch-gesellschaftliche Großoffensive zur Bekämpfung der Jugendarmut.
Christoph Butterwegge Bild: Raimond Spekking/CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)
Butterwegge zeigt zunächst die Dimension des Problems besonders bei Jugendlichen auf: "War die Armutsrisikoquote der Kinder etwas geringer als ein Jahr zuvor, so erreichte die Armutsrisikoquote der Menschen von 18 bis unter 25 Jahren im Jahr 2020 mit 26 Prozent ein Rekordniveau, das von keiner Altersgruppe überboten wurde." Armut bedeute aber nicht bloß, wenig Geld zu haben, denn vor allem Kinder und Jugendliche, die in armen Familien aufwachsen, seien auch persönlicher Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten beraubt, sozial benachteiligt und im Hinblick auf Bildung und Kultur, Wohlergehen und Gesundheit, Wohnen, Freizeit und Konsum unterversorgt: "Wer schon in jungen Jahren deklassiert und ausgegrenzt wird, vermag kulturelle und Bildungsprozesse womöglich nie mehr im Sinne seiner persönlichen Emanzipation zu nutzen."
Sinkende Einkommen, Verlust sozialer Sicherheit
Die Entstehungsursachen der Jugendarmut sieht der Politikwissenschaftler auf drei Ebenen. So werde das "Normalarbeitsverhältnis" durch eine steigende Zahl atypischer, prekärer, befristeter, Leih- und (Zwangs-)Teilzeitarbeitsverhältnisse, die den Beschäftigten kein ausreichendes Einkommen garantiere, in seiner Bedeutung stark relativiert. Zugleich büße die "Normalfamilie", also die traditionelle Hausfrauenehe mit ein, zwei oder drei Kindern, in vergleichbarer Weise an gesellschaftlicher Bedeutung ein. Neben sie träten immer mehr Lebens- und Liebesformen, die weniger materielle Sicherheit für Kinder gewährleisteten. Nicht zuletzt gebe es einen Abbau von Sicherungselementen für "weniger Leistungsfähige" und weniger soziale Sicherheit als bei vorherigen Generationen.
Zur Bekämpfung der Jugendarmut fordert Butterwegge ein integriertes Gesamtkonzept mit fünf Kernelementen: Ein gesetzlicher Mindestlohn ohne Ausnahmen und in existenzsichernder Höhe, eine Ganztagsbetreuung für alle Klein- und Schulkinder, eine Gemeinschaftsschule, eine soziale Grundsicherung, die ihren Namen im Unterschied zu Hartz IV verdiene, weil sie bedarfsgerecht, armutsfest und repressionsfrei sei, und eine Großoffensive gegen Kinder- und Jugendarmut. Von Armut besonders betroffene Regionen müssen aus Sicht des Armutsforschers befähigt werden, ihre soziale, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur so weit zu entwickeln, dass die Kinder- und Jugendarmut sinkt: "Nur wenn genügend Kindertagesstätten, gut ausgestattete Schulen mit besser ausgebildetem und mehr Lehrpersonal sowie interessante Freizeitangebote vorhanden sind, kann verhindert werden, dass ein Großteil der nachwachsenden Generation unterversorgt und perspektivlos bleibt."