12.06.2014
Inklusion auch in der Berufsausbildung
Ein Plädoyer
von Ruth Enggruber
Spätestens seitdem in 2009 auch Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet hat, wird die deutsche Inklusionsdebatte vor allem von Fragen der Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in den allgemeinbildenden Schulen bestimmt. Die Berufsausbildung wird dabei eher am Rande oder ergänzend erwähnt.
Den meisten Diskussionen liegt ein Inklusionsverständnis zugrunde, das sich nur auf Menschen mit Behinderungen bezieht, während die UNESCO-Kommission in ihren bildungspolitischen Leitlinien weit darüber hinausgeht. Dort wird Behinderung als soziale Kategorie und relationaler Begriff gefasst in dem Sinne, dass die im jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Kontext gegebenen Bedingungen maßgebend dafür sind, welche Menschen in ihrer Teilhabe an Bildung in irgendeiner Weise behindert werden. Mit diesem Verständnis werden Ursachen für Lernschwierigkeiten nicht mehr den einzelnen Lernenden und ihren (unzulänglichen) Fähigkeiten und Voraussetzungen zugeschrieben, sondern in den Strukturen des Bildungssystems verortet. Damit erübrigen sich auch individualisierende Zuschreibungen wie "behindert", "benachteiligt" und somit auch "nicht ausbildungsreif", weil alle Lernenden in ihrer Vielfalt und Einzigartigkeit geschätzt und anerkannt werden.
So verstanden ist ein inklusives Bildungssystem dann erreicht, wenn alle Menschen - unabhängig von ihren Fähigkeiten, ihrem Geschlecht, ihrer sozialen und ethnischen Herkunft, ihrer Behinderung oder anderer persönlicher Merkmale - Zugang zu allen Bildungsangeboten haben und bei Bedarf individualisierte Unterstützung erhalten. Dieses weite Inklusionsverständnis begründet die UNESCO mit einer dezidiert gerechtigkeitstheoretischen Position und bestimmt Bildung als ein grundlegendes Menschenrecht und als Basis für eine gerechtere Gesellschaft.
Inklusive Gestaltung der dualen Berufsausbildung
Überträgt man dieses weite Verständnis auf eine inklusive Berufsausbildung, dann bedeutet diese gerechtigkeitstheoretische Perspektive, dass Berufsausbildung nicht mehr - wie bisher - vorrangig an ihrem bildungsökonomischen Beitrag zur Sicherung des Fachkräftenachwuchses, sondern vor allem daran gemessen würde, inwieweit sie gesellschaftliche Teilhabe und Chancengerechtigkeit sowie die Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen fördert.
Ausbildung muss von der oder vom Auszubildenden aus gedacht und den Bedürfnissen entsprechend individuell gestaltet werden.
Insbesondere in der dualen Berufsausbildung scheinen die vorhandenen Bedingungen gut zu sein, um sie inklusiv zu gestalten. Denn dort bestehen im Gegensatz zu vielen Schulberufsausbildungen, einem Hochschulstudium oder weiterführenden Schulen keine formalen Zugangsregeln. Nur für junge Menschen, für die in Folge ihrer Behinderung keine reguläre Berufsausbildung in Betracht kommt, bestehen Sonderregelungen im Berufsbildungsgesetz beziehungsweise in der Handwerksordnung. Diese müssten konsequenterweise im Rahmen einer inklusiv gestalteten Berufsausbildung aufgegeben werden. Weitere Änderungen wären jedoch nicht notwendig. Es gilt der Grundsatz "Ausbildung für alle".
Dem steht jedoch entgegen, dass der Staat zwar selbst keine Zugangsregeln vorgibt, diese aber den einzelnen Ausbildungsbetrieben übertragen hat. Sie entscheiden, wie viele Ausbildungsplätze sie anbieten und welche Jugendlichen sie als Auszubildende einstellen. Diese marktwirtschaftliche Steuerung des Zugangs zur Berufsausbildung führt seit Jahrzehnten dazu, dass viele Ausbildungsinteressierte leer ausgehen, weil sie keine Lehrstelle in einem Betrieb finden. Gegenwärtig hat die Ausbildungsbetriebsquote mit nur noch knapp 21 Prozent seit 1990 einen erneuten historischen Tiefpunkt erreicht. Im Berichtsjahr 2012/13 haben rund 385.000 Ausbildungsinteressierte keine Lehrstelle gefunden. Vielen von ihnen wird von der Berufsberatung der Arbeitsagenturen fehlende Ausbildungsreife attestiert - mit der Konsequenz, dass sie in eine Maßnahme im Übergangsbereich vermittelt werden, um sich dort erst einmal auf eine Berufsausbildung vorzubereiten.
Aus der Perspektive inklusiver Bildung ist dieses Vorgehen grundlegend zu ändern, zumal damit für die betroffenen Jugendlichen erhebliche Identitätszumutungen und Stigmatisierungsrisiken verbunden sind.
Reformvorschläge für eine inklusive Berufsausbildung
Um die duale Berufsausbildung vor dem Hintergrund des weiten Verständnisses von Inklusion inklusiv zu gestalten, ist stattdessen eine Reihe von institutionellen Änderungen notwendig. Zentral sind dabei vier Reformvorschläge:
Reformvorschlag 1: Ausbildungsplatzgarantie
Mittels einer Ausbildungsplatzgarantie wird allen ausbildungsinteressierten Jugendlichen unmittelbar nach Verlassen der allgemeinbildenden Schule der Beginn einer ihren Wünschen entsprechenden betrieblichen Berufsausbildung ermöglicht. Nur wenn kein betrieblicher Ausbildungsplatz zu finden ist, wird ihnen alternativ eine schulische oder außerbetriebliche Berufsausbildung in dem von ihnen gewünschten Beruf angeboten.
Damit erübrigen sich Prüfungen der Ausbildungsreife der Jugendlichen ebenso wie die Maßnahmen des Übergangsbereichs, in denen sie auf eine Berufsausbildung vorbereitet werden sollen. Stattdessen sind für diejenigen, die ihren Schulabschluss verbessern oder nachholen möchten, gezielte Bildungsangebote zu schaffen.
Reformvorschlag 2: Gewährleistung individueller Ausbildungsarrangements
Um die bunte Vielfalt der jungen Menschen, ihre individuellen Lebenslagen, Bedürfnisse und Interessen systematisch berücksichtigen zu können, sind die Organisations- und didaktischen Strukturen der betrieblichen, schulischen und außerbetrieblichen Berufsausbildung auf den Prüfstand zu stellen und neu zu denken. Ausbildung muss vom/von der Auszubildenden aus gedacht und seinen/ihren Bedürfnissen entsprechend individuell gestaltet werden. Erste Anregungen finden sich dazu in bereits erprobten Konzepten wie Ausbildungsverbünden, kooperativen Ausbildungsformen zwischen Betrieben und Bildungseinrichtungen, assistierter Berufsausbildung, ausbildungsbegleitenden Hilfen (abH) sowie Teilzeitausbildungsmodellen für junge Mütter und Väter.
Dabei sind auch die rechtlich gegebenen Möglichkeiten der Stufenausbildung stärker zu nutzen sowie jene, die Ausbildungszeit individuell verlängern zu können. In Abstimmung mit den Ausbildungsbetrieben, den Kammern bzw. zuständigen Stellen sowie den Akteuren der Jugendhilfe und den berufsbildenden Schulen wird zu klären sein, welche Ausbildungsstrukturen notwendig sind, um alle Auszubildenden individuell und flexibel so zu unterstützen, dass sie ihre Berufsausbildung erfolgreich abschließen können.
Reformvorschlag 3: Zertifizierung und Anrechnung bereits erreichter Qualifikationen
Jungen Menschen, deren Ausbildungsvertrag trotz individueller Förderung vorzeitig auf eigenen Wunsch oder von Seiten des Betriebes gelöst wird oder die gerne ihre Berufsausbildung aus irgendwelchen Gründen unterbrechen möchten, sollen ihre bis dahin erreichten Qualifikationen zertifiziert werden. Mittels dieser Zertifikate werden sie ihnen bei einem späteren (Wieder)Einstieg in die gleiche oder eine andere Berufsausbildung angerechnet, oder sie nutzen sie als Qualifikationsnachweis bei der Suche eines Erwerbsarbeitsplatzes. Für eine solche curriculare Flexibilisierung sind die entsprechenden rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, so dass die Betriebe und Bildungseinrichtungen dazu verpflichtet werden, die bereits erreichten beruflichen Handlungskompetenzen auf die (weitere) Berufsausbildung anzurechnen.
Reformvorschlag 4: Partizipation der Jugendlichen als "Experten ihrer selbst"
"Sprich nicht über mich, sondern mit mir!" Dieser Grundsatz gilt in besonderem Maße für eine inklusiv gestaltete Berufsausbildung. Deshalb sind die Auszubildenden in allen relevanten Gremien wie z.B. Berufsbildungsausschüssen zu beteiligen, weil sie über die größte Expertise in Bezug auf sich selbst verfügen.
Notwendige Unterstützungsstrukturen
Zur Unterstützung der inklusiven Berufsausbildung werden bundesweit in den Kommunen zentrale Anlaufstellen für die Jugendlichen und ihre Eltern eingerichtet, wo alle Leistungen der kommunalen Jugendhilfe (SGB VIII) sowie Arbeits- und Sozialverwaltung (SGB II, III, IX) zusammengeführt werden, ohne dass eine neue Behörde entsteht. Alle Angebote werden unter einem Dach vereint, so dass die Jugendlichen und Eltern Beratung und Unterstützung ,aus einer Hand' erhalten.
Konkret heißt das: wer vor oder in einer Ausbildung Unterstützung braucht, kann sie individuell hier beantragen, ohne sich Einzelfallprüfungen und Bewilligungsprozeduren auszusetzen. Erste Erfahrungen dazu liegen mit den "Arbeitsbündnissen Jugend und Beruf" vor, die unter Federführung der Bundesagentur für Arbeit an 20 Modellstandorten erprobt wurden.
Um allen jungen Menschen in der Kommune bzw. Region ein ihren Wünschen und Bedürfnissen entsprechendes Ausbildungsangebot machen zu können, ist in den neu zu schaffenden Organisationseinheiten wie den "Arbeitsbündnissen Jugend und Beruf" ein kommunales Übergangsmanagement anzusiedeln, das auch die Vernetzung aller relevanten Akteure für Berufsausbildung initiiert und voranbringt. Dort ist zum einen auch die Zuständigkeit für kommunales Bildungsmonitoring zu verankern, um zu gewährleisten, dass alle jungen Menschen in der Kommune bzw. Region erreicht werden und den gewünschten Ausbildungsplatz erhalten.
Zur Gestaltung inklusiver Berufsausbildung ist hoch qualifiziertes pädagogisches Personal an allen Lernorten notwendig, das auch Erfahrungen in der Arbeit in multiprofessionellen Teams hat.
Zum anderen sind dort für alle pädagogischen Fachkräfte Fortbildungen zu organisieren, die auch zur Teamentwicklung beitragen. Zur Gestaltung inklusiver Berufsausbildung ist hoch qualifiziertes pädagogisches Personal an allen Lernorten notwendig, das auch Erfahrungen in der Arbeit in multiprofessionellen Teams hat. Um allen Jugendlichen mit ihren individuellen Voraussetzungen gerecht werden zu können, arbeiten die betrieblichen oder außerbetrieblichen Ausbilderinnen und Ausbilder sowie Lehrkräfte in den Berufsschulen gemeinsam mit Sozialpädagoginnen/Sozialpädagogen und Sonderpädagoginnen/Sonderpädagogen.
Obwohl es kein Spezifikum inklusiver Berufsausbildung ist, gilt auch im Zusammenhang der inklusiven Berufsausbildung, dass pädagogische Fachkräfte ein angemessenes Einkommen beziehen und strukturell die Möglichkeit erhalten müssen, vertrauensvolle Beziehungen zu den Jugendlichen aufzubauen. Deshalb sollte die gegenwärtige Vergabepraxis der öffentlichen Träger, insbesondere der Arbeitsverwaltung, geändert werden. Sie begünstigt, dass möglichst preiswerte Berufsbildungsmaßnahmen immer nur für wenige Jahre an die Bildungseinrichtungen vergeben werden. In der Praxis führt dies zu Lohndumping und befristeten Arbeitsverträgen mit der Konsequenz, dass die pädagogische Qualität unter hoher Personalfluktuation leidet, weil letztlich niemand unter diesen Bedingungen dauerhaft arbeiten möchte.
Inklusive Berufsausbildung im Spiegel von Expertenmeinungen
Im Rahmen des BIBB-Expertenmonitors sprachen sich die meisten Expertinnen und Experten für ein weites Inklusionsverständnis aus. Obwohl die Fachleute überwiegend die dargestellten Reformvorschläge begrüßen, erachten sie ihre Umsetzung als wenig wahrscheinlich. Insbesondere Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände bezweifeln häufiger ihre Machbarkeit und warnen zugleich vor nicht beabsichtigten Effekten wie der abnehmenden Ausbildungsbereitschaft der Betriebe.
Trotz dieser eher pessimistischen Einschätzungen der Bildungsexpertinnen und -experten plädiere ich für die schrittweise Einführung inklusiver Berufsausbildung im Interesse der Jugendlichen und zur Förderung von mehr Bildungsgerechtigkeit in der dualen Berufsausbildung. Die meisten derjenigen, die bei ihrer Ausbildungsplatzsuche erfolglos geblieben sind, sind von ausgeprägten Segmentierungen in regional und beruflich differenzierte Teilausbildungsmärkte sowie merklichen Ungleichheiten aufgrund ihrer ethnischen und sozialen Herkunft betroffen. Angesichts dieser ungleichen Zugangschancen ist die soziale Integrationsfähigkeit der dualen Berufsausbildung grundsätzlich in Frage zu stellen, wenn es zukünftig nicht gelingen wird, sie inklusiv zu gestalten.