23.04.2009

Hauptsache Betrieb

Eine sinnvolle bildungspolitische Weichenstellung?

von Dr. Gertrud Kühnlein

Eine schnelle Einbeziehung in den betrieblichen Alltag statt realtitätsferner, "verschulter" außerbetrieblicher Förderung: Die Vision der Verbesserung der Beschäftigungschancen benachteiligter Jugendlicher durch eine Stärkung des Lernorts Betrieb ist unmittelbar einleuchtend. Und so nimmt die Zahl der Programme und Projekte, die darauf abzielen, stetig zu. Die Tendenz zur Verbetrieblichung markiert einen Paradigmenwechsel der Benachteiligtenförderung.

Dabei geht es vor allem um den Aufbau kohärenter Förderstrukturen und um eine (Wieder-) Gewinnung der Betriebe als Lern- oder Ausbildungsort auch für Jugendliche mit schlechten Startchancen. Öffentliche Subventionen sollen vor allem mit dem Ziel eingesetzt werden, den "Lernort Betrieb", zumindest in Form von Praktikumsbetrieben, verstärkt in die Berufsausbildung und in berufs(ausbildungs)vorbereitende Maßnahmen einzubeziehen.

Intendiert ist mit diesem Kurswechsel eine Abkehr von der bisherigen Benachteiligtenförderung, die in den letzten Jahren als zunehmend verschult wahrgenommen wird, weil sie überwiegend im "Schonraum" der Beruflichen Schulen und bei außerbetrieblichen Trägern stattfinde. Demgegenüber setzen die aktuellen bildungspolitischen Strategien auf den unbedingten Vorrang für eine Stärkung der betrieblichen Ausbildung respektive Berufsausbildungsvorbereitung.

Die Befürworter dieses Trends erwarten in erster Linie einen Zugewinn an Realitätsnähe, wenn auch Lern- und Leistungsschwächere möglichst rasch in den betrieblichen Arbeitsalltag einbezogen werden. Des Weiteren erhofft man sich eine Verbesserung der Beschäftigungschancen durch den erwarteten "Türöffner-" bzw. "Klebeeffekt", weil die Betriebe so die Chance erhalten, auch Jugendliche mit schwächeren schulischen Leistungen besser kennen zu lernen. Nicht zuletzt soll diese Neuausrichtung der Benachteiligtenförderung auch zu einer finanziellen Entlastung der öffentlichen Hand führen.

Betriebspraktika - Brücken in Ausbildung und Arbeit?

Kritisch zu hinterfragen ist allerdings, ob die angestrebte Verbetrieblichung der Benachteiligtenförderung tatsächlich die geeignete Strategie darstellt, um Jugendlichen "mit besonderem Förderbedarf" den Einstieg in Ausbildung und Arbeit zu erleichtern. Denn gerade diese jungen Menschen brauchen in besonderem Maße Betreuung und Aufmerksamkeit, die ihnen Betriebe in der Regel nicht bieten (können): Die Mehrzahl der Unternehmen - so das Ergebnis einer entsprechenden Umfrage des BIBB - ist der Auffassung, dass die Berufsausbildungsvorbereitung nicht zu ihren Aufgaben zählt und engagiert sich entsprechend zögerlich.

So verwundert es nicht, dass sich zwar das öffentlich subventionierte Langzeitpraktikum Einstiegsqualifizierung (EQ) in den letzten Jahren recht großer Zustimmung bei den Betrieben erfreute; alle bisherigen Erfahrungen zeigen aber, dass interessierte Jugendliche vor allem dann eine Chance erhalten, wenn sie von ihren schulischen Vorqualifikationen und ihrer Leistungsfähigkeit her bereits wie Auszubildende (oder als billige Arbeitskräfte) einsetzbar sind.

Symptomatisch ist denn auch, dass nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der Unternehmen vom Angebot der Arbeitsagenturen Gebrauch macht, eine sozialpädagogische Begleitung in Anspruch zu nehmen. An jungen Menschen mit sozialpädagogischem Unterstützungsbedarf haben sie in der Regel kein Interesse. Stattdessen profitieren die beteiligten Unternehmen von der großen Gestaltungsoffenheit, die dieses arbeitsmarktpolitische Instrument prägt: Es steht ihnen frei, ob sie sich an den Qualifizierungsbausteinen orientieren wollen - oder nicht. Vielfach fehlt zudem eine systematische Verknüpfung zum Lernort-Partner Berufsschule, so dass von einer Systematisierung der Benachteiligtenförderung und von einer Abkürzung oder gar Vermeidung "unproduktiver Warteschleifen" nicht die Rede sein kann.

Das aber bedeutet, dass der Arbeits- und Lernort Betrieb vielfach mit öffentlichen Geldern dafür subventioniert wird, dass er überhaupt zur Verfügung steht.

Vorrang für betriebliche Ausbildung - Vorteil für Leistungsschwache?

Die bildungspolitische Strategie, Betriebe statt der Berufsschulen und der außer- und überbetrieblichen Träger mit der Berufausbildungsvorbereitung lernschwächerer Jugendlicher zu beauftragen, nimmt daher fragwürdige bildungspolitische Weichenstellungen vor. Sie bestärkt gerade die problematischen Aspekte der dualen Berufsausbildung, auf die bereits seit vielen Jahren von (berufs)bildungspolitischen Fachleuten immer wieder kritisch hingewiesen wird. Denn die Erkenntnis, dass nicht jede Arbeitssituation automatisch als lernhaltig gelten kann und dass keineswegs jeder Betrieb als Ausbildungsbetrieb geeignet ist, ist ja weder neu noch überraschend. Wirksame Qualitätskontrollen (schon in der Berufsausbildung ein heikles Thema) aber kommen in der betriebsbezogenen Berufsausbildungsvorbereitung praktisch nicht zum Einsatz.

Zentral ist jedoch aus meiner Sicht der Einwand, dass die einzelbetriebliche Verfügungsmacht über Zugänge zur und Gestaltung der Berufsausbildung verhindert, dass der Lernort Betrieb wirklich allen - auch den leistungsschwächeren - Jugendlichen zur Verfügung steht. Solange Unternehmen die freie Bewerberauswahl haben, bevorzugen sie erfahrungsgemäß die bildungs- und leistungsstärkeren Jugendlichen.

Auf der Strecke bleiben jene, die - aus welchen Gründen auch immer - an den Formen des schulischen Lernens beziehungsweise am System Schule gescheitert sind und infolgedessen keine Lehrstelle erhalten haben. So steht der Betrieb als Lernort und als "Erfahrungszusammenhang von ,Ernstsituationen'" denen am wenigsten zur Verfügung, die ihn am meisten brauchen.