08.10.2020 | Redaktion | Women‘s Science
Forschung in eigener Sache
Projekt "Women’s Science" beteiligte geflüchtete Frauen an Forschungsvorhaben
Die Probleme geflüchteter Frauen in Bezug auf ihre Teilhabe in Arbeit, Bildung und Gesellschaft sichtbar und so etwas besser lösbar zu machen – wer könnte das besser als diese Frauen selbst? Genau diesen Ansatz wählte das Projekt "Women‘s Science". Neun geflüchtete Frauen wurden in Analyse- und Befragungsmethoden ausgebildet und führten Erhebungen nach einem selbst gewählten Forschungsdesign durch. Damit erhalten geflüchtete Frauen erstmals eine Stimme im öffentlichen Raum, um so Diskussions- und Bildungsprozesse in Politik und Verwaltung zu befördern.
Ausschnitt aus der Titelseite der Abschlusspublikation
Die Ergebnisse ihrer Erhebungen veröffentlichte das durchführende "Minor Projektkontor für Bildung und Forschung" in der Abschlusspublikation des Forschungsprojekts. Die beteiligten Frauen sind zwischen 23 und 41 Jahren alt, kommen mehrheitlich aus Syrien, aber auch aus dem Iran und Afghanistan. Sie brachten als Lehrerinnen, Wissenschaftlerinnen und Statistikerinnen in unterschiedlichen Graden Vorkenntnisse mit, unter ihnen waren aber auch eine Bankkauffrau und eine Energie- und Verfahrenstechnikerin. Ihre Befragungen bezogen sich auf die Themen "Schwimmende Identitäten", "Studium und Flucht", "Angst und Sicherheit", "Frauenräume und Empowerment", "Kopftuch und Arbeitsmarkt" und "Erfolgreiche Arbeitsmarktintegration".
Exemplarisch können hier nur einige Schlaglichter auf die Ergebnisse der Befragungen gerichtet werden:
- Schwimmende Identitäten: Viele der befragten Frauen haben das Gefühl, dass sie ihre eigene Kultur nicht ausreichend in ihr neues Leben in Deutschland integrieren können. Das führt teilweise dazu, dass sie an den damit verbundenen Traditionen besonders stark festhalten. Die meisten Frauen, aber auch ihre Kinder erleben im Alltag Diskriminierung aufgrund ihrer Hautfarbe und/oder Herkunft. Dies verstärkt das Gefühl der Ungleichheit und verhindert aus ihrer Sicht ein gleichberechtigtes Zusammenleben.
- Frauenräume und Empowerment: Die persönliche Lage der befragten Frauen verbesserte sich auch nach mehrjährigem Aufenthalt in Deutschland nicht oder nur kaum: Unzureichende Sprachkenntnisse, fehlender/unzureichender Wohnraum, psychosoziale Belastung/Traumata sowie fehlende Arbeit sind für die Mehrzahl noch immer die wichtigsten Herausforderungen. Im Hinblick auf den Spracherwerb kritisieren sie die sehr großen Qualitätsunterschiede der Sprachkurse.
- Kopftuch und Arbeitsmarkt: Viele der befragten Frauen sind verunsichert, da für sie oft nicht eindeutig einzuschätzen ist, ob das Kopftuch wirklich der Grund für eine Ablehnung ist. Frustrierend ist in diesem Zusammenhang insbesondere die fehlende berufliche Anerkennung sowie das Gefühl, trotz guter Zeugnisse, Qualifikationen und Berufserfahrung allein auf das Kopftuch reduziert zu werden. Als sehr belastend empfinden sie, sich dabei als Stellvertreterin "der Muslim*innen" positionieren zu müssen.
- Erfolgreiche Arbeitsmarktintegration: Besonders wichtig ist es aus Sicht der befragten Frauen, sich intensiv über Beschäftigungsmöglichkeiten in Deutschland zu informieren und klare berufliche Ziele zu haben bzw. zu entwickeln. Bei der Einarbeitung in einen Job spielt die Beherrschung der deutschen Sprache aus ihrer Sicht insbesondere im Rahmen der nicht-fachlichen Kommunikation (Small Talk, Vernetzung etc.) eine wichtige Rolle. Sowohl die befragten Frauen als auch die Unternehmen gaben an, dass bereits im Unternehmen existierende Gender Diversity-Maßnahmen einen positiven Einfluss auf den Einarbeitungsprozess von Frauen mit Fluchterfahrung haben.
"Wo Du die Sprache nicht kennst, wird Dich niemand akzeptieren und Du wirst keine Identität finden. Sprache bedeutet Kommunikation und Deine Verbindung zur Gesellschaft und Kultur; von dort aus kannst Du Dich selbst kennenlernen." - Aus einem Interview
Den Einsatz der partizipativen Methode (auch "Citizen Science-Methode" genannt) bewertet das Projektteam von "Women’s Science" im Fazit der Publikation sehr positiv: "Weil die Co-Forscherinnen selbst eigene Fragestellungen entwickelten, konnten sie nicht nur die Zielgruppe passgenau ansprechen und durch den Einsatz der jeweiligen Muttersprache Zugangsbarrieren abbauen, sondern auch Außenstehenden eine Binnenperspektive vermitteln. Das Ergebnis: eine große Offenheit bei den Antworten der Befragten, die intensive Einblicke in das Leben der befragen Frauen ermöglichen."