07.10.2019 | Redaktion
Prekäre Parallelwelt
Studie zeigt geringe Teilhabechancen von Langzeitarbeitslosen
Warum nehmen langzeitarbeitslose Menschen überdurchschnittlich häufig nicht an politischen Wahlen teil? Ausgehend von dieser Frage erarbeitete die Stuttgarter "Denkfabrik – Forum für Menschen am Rande" eine Studie, die eindringlich auf die "prekäre Parallelwelt" hinweist, in der Menschen kaum Möglichkeiten zu sozialer, ökonomischer, kultureller und eben auch politischer Teilhabe besitzen. Das Besondere: Hier kamen Langzeitarbeitslose nicht nur selbst zu Wort, sondern befragten auch andere Betroffene.
"Unerhört! Langzeitarbeitslose Nichtwähler melden sich zu Wort" lautet der Titel der explorativen qualitativen Studie (also ohne vorausgesetzte Hypothesen sowie ohne standardisierte Daten und damit nicht repräsentativ), für die bundesweit 66 Interviews ausgewertet wurden. Die thematische Analyse förderte zwei Hauptmotive für das Fernbleiben von den Wahlurnen zutage: Zum einen erleben Langzeitarbeitslose, dass sie bei politischen Entscheidungen benachteiligt werden. Zum anderen empfinden sie sich aufgrund ihrer sozioökonomischen Situation und gesellschaftlichen Ausgrenzung so gelähmt, dass sie nicht genügend Kraft und Zuversicht haben, um sich mit Politik und Wahlen auseinanderzusetzen. Sie versprechen sich davon auch schlicht keine Verbesserung ihrer Lage.
"Durch die Langzeitarbeitslosigkeit hat mich einfach alles nicht mehr interessiert. Du bist so mit dir selbst beschäftigt. Und du guckst nur, dass du den Tag überstehst." - Frau S., 35 Jahre alt
Die Interviews spiegeln dies klar wider. So gibt die Studie die Aussage einer 35 Jahre alten, seit Langem arbeitslosen Kommunikations-Produktdesignerin wieder: „Durch die Langzeitarbeitslosigkeit hat mich einfach alles nicht mehr interessiert. Du bist so mit dir selbst beschäftigt. Und du guckst so, dass du den Tag überstehst. […] Da ist das Wählen, sag ich mal, dermaßen in den Hintergrund getreten, dass man halt einfach gar keinen Kopf mehr dafür hatte.“ Dieser Effekt betrifft laut Studie aber nicht nur das Wahlverhalten, sondern das gesamte Spektrum gesellschaftlicher Teilhabe. Die Befragten beschrieben die Befindlichkeiten, die zum Rückzug aus gesellschaftlichen und politischen Sphären führten, unter anderem als
- das Gefühl der Ausgrenzung und des Abgehängt-Seins
- die Angst vor weiterem sozialen Abstieg durch Abbau sozialer Sicherungen
- Scham und Peinlichkeit die eigene Lage betreffend
- ein Gefühl erlittener massiver sozialer Ungerechtigkeit
- Ohnmachtsgefühle angesichts empfundener bürokratischer Willkür
- das Gefühl, nur Bürger oder Bürgerin zweiter Klasse zu sein
- Verlust an stabilisierenden normativen Orientierungen
- Vertrauensverlust in gesellschaftliche Institutionen mit Rückzug in die Privatsphäre
Von der Politik und der Gesellschaft fühlen sich viele Langzeitarbeitslose zu wenig wahrgenommen und zu wenig ernstgenommen. Sie wünschen sich "ein normales Leben", einen guten und sicheren Arbeitsplatz und vor allem soziale Gerechtigkeit. Eine von den Autorinnen und Autoren der Studie auf der Basis der Befragung "verdichtete" Forderung lautet: "Schafft einen Ausgleich zwischen Arm und Reich. Regiert nicht nur für die Wirtschaft und die Wohlhabenden", eine andere: "Behandelt uns respektvoll, so wie Menschen es verdienen." Zusammengefasst geht es ihnen um zwei menschliche Grundbedürfnisse: Soziale Anerkennung und materielles Auskommen durch eigene Arbeit.
Die Studie wurde von der "Denkfabrik – Forum für Menschen am Rande" im Sozialunternehmen Neue Arbeit Stuttgart in Kooperation mit dem Evangelischen Fachverband für Arbeit und soziale Integration (EFAS) herausgegeben. Professor Franz Schultheis von der Universität St. Gallen sowie Studenten und Studentinnen der Universität Stuttgart haben das Projekt wissenschaftlich begleitet.