13.03.2014
Jenseits des Mainstreams
Die Queer Factory in Potsdam begleitet Jugendliche, die "anders" sind
von Petra Lippegaus-Grünau
Bei der Identitätsbildung spielt der Beruf eine zentrale Rolle. Aber nicht für alle Jugendlichen. Bei jungen Menschen, die nicht dem gängigen Bild von Mann und Frau entsprechen, überlagern andere Fragen und Aufgaben den Weg in den Beruf, viele haben im Umfeld mit massiven Problemen zu kämpfen. Das Projekt Queer Factory in Brandenburg versteht sich als Partner für homosexuelle / lesbische Jugendliche mit multiplen Problemen sowie für Menschen, die sich auf der Suche nach ihrer Geschlechtsidentität befinden. Es setzt an deren Lebenssituation an und unterstützt ihren Weg in Ausbildung und Gesellschaft.
Er war ein attraktiver junger Mann, Muslim, in der 8. Klasse und kam aus dem Kosovo. Die mehrtätige Kompetenzfeststellung genoss er, durfte, ja sollte er doch Stärken und Individualität zeigen. Zunächst in den Pausen offenbarte er sich, er tanzte, sang - und begeisterte alle. Von den Übungen gefielen ihm die am besten, die mit schönen Dingen zu tun hatten: Er dekorierte, verkleidete sich und andere mit viel Phantasie und mit Liebe zu Stoffen, die sich gut anfühlten, zu Formen und Farben. Er war glücklich, diese Seiten ausleben zu dürfen - zum ersten Mal im Leben.
Für seinen Vater war ein solches Verhalten unvorstellbar. Was nun? Welchen Weg könnte er einschlagen, ohne einen Bruch mit seiner Familie zu riskieren? Ausgangspunkte für berufliche Pläne waren genug deutlich geworden: seine ästhetischen Talente, sein Interesse an Stoffen und seine Begabung, Menschen zu kleiden. Ein erster Schritt in ein vielleicht schillerndes Leben könnte eine Ausbildung im Bekleidungssektor sein.
Erschwerte Identitätssuche, fehlende Vorbilder
"Queer" heißt ursprünglich soviel wie "sonderbar" und galt mal als Schimpfwort für Schwule und andere, die von der Norm abweichen. Heute ist es eher eine stolze Eigenbezeichnung für Menschen und Lebensweisen, die nicht in das heterosexuelle Normalitätsmuster passen, z.B. für Lesben, Schwulen, Bisexuelle und Trans# (LSBT), mit Trans sind Menschen mit unterschiedlichen Fragen zur Geschlechtsidentität gemeint. Aufklärung und Hintergrundwissen dazu liefert eine aktuelle Pilotstudie des Deutschen Jugendinstituts zu Lebensgewohnheiten und Diskriminierungserfahrungen dieser Gruppe.
Wer als nicht konform gilt, ist im Übergang von der Schule in den Beruf erheblichen Mehrbelastungen ausgesetzt: einer erschwerten Identitätssuche bei fehlenden Vorbildern, der Gefahr von Unverständnis und Ablehnung in der Familie und im Freundeskreis, in der Schule, in der Ausbildung und im Alltag. Mit ihren Sorgen und Nöten bleiben die Jugendlichen oft auf sich gestellt.
Mehr als 85 Prozent junger Menschen, die sich abseits von heteronormativen Strukturen bewegen, haben Diskriminierungserfahrungen hinter sich, verbale Übergriffe, gesellschaftliche Benachteiligungen, Mobbing und Cybermobbing. Die DJI-Studie weist auf die fatalen Folgen hin: Junge Lesben und Schwulen weisen ebenso wie transsexuelle und transidente Jugendliche ein mehrfach erhöhtes Suizidrisiko auf. In Interviews ist davon die Rede, dass rund ein Viertel aller Jugendlichen, die von Streetworkern betreut werden, dem LSBT- Spektrum zugerechnet werden können. Das heißt: Überdurchschnittlich viele junge Menschen sind obdachlos, weil sie aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität ihre Familie verlassen mussten.
Das bestätigt auch Carsten Bock, Leiter der Queer Factory und Ansprechpartner der gewerkschaftlichen Arbeitsgruppe verdi queer. Zwar habe sich die Situation für Schwule und Lesben generell verbessert. In großen Städten wie Köln und Berlin sei eine Ausbildung oder Arbeit meist kein Problem mehr. In vielen großen Unternehmen gibt es Netzwerke für schwule, lesbische und bisexuelle Angestellte. Vorreiter in Deutschland waren die Ford-Werke in Köln mit ihrem Netzwerk Ford GLOBE, das 1996 nach Deutschland kam. Solche betrieblichen Netzwerke setzen sich im Rahmen von Betriebsvereinbarungen für die Rechte der betroffenen Angestellten ein, richten ein Diversity-Management ein und organisieren zwischenmenschlichen Austausch. Auch in kleinen Betrieben müsse eine Coming Out heute kein Problem mehr sein. Wo ein persönliches Näheverhältnis besteht, schützt der Chef / die Chefin die Betroffenen vor Angriffen anderer.
Wer nicht konform ist, wird ins Abseits gedrängt
In anderen Umgebungen - z.B. auf dem Land, in manchen mittelgroßen Unternehmen, vor allem aber in der Schule stößt - so Carsten Bock - alles Nonkomforme auf Ablehnung. Dabei können ausgesprochen ungünstige Korrelationen auftreten: Aufgrund von Diskriminierung gehen Jugendlichen nicht mehr in die Schule, manche flüchten auch aus ihrer Familie und ihrem Dorf in große Städte. Viele Jugendliche im Projekt Queer Factory haben Erfahrung mit Gelegenheitsprostitution, nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern weil sie eine Form von Bestätigung suchten. Manche haben versucht, ihre Not durch Drogen abzumildern. Fast die Hälfte der schwulen Besucher im Projekt ist HIV-positiv.
Besonders belastend ist die Situation für Jugendliche auf der Suche nach einer Geschlechtsidentität, dazu zählen z.B. junge Menschen, deren körperliches Geschlecht nicht ihrer Identität entspricht (Transsexuelle / Transidente), Menschen, die sich nicht zuordnen können und sich zwischen den Geschlechtern bewegen (Transgender) und intergeschlechtliche Menschen mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen. Die Umwelt reagiert oft mit Pathologisierungen. Viele Biografien sind durch Schulwechsel und Klinikaufenthalte gekennzeichnet. Eine Geschlechtsumwandlung ist vielfach mit Ablehnung verbunden, z.B. in Ausbildung und Arbeit. Für Frauen sei es sehr viel leichter, zum Mann zu werden als umgekehrt. "Die Gesellschaft nimmt das vermeintlich schwächere Geschlecht nicht an." So gut wie alle Transfrauen (vom Mann zur Frau) kündigen oder werden gekündigt, wenn sie die neue Rolle ausprobieren.
Bei den vielfältigen Problemen der verschiedenen Gruppen setzt die Hilfe der Beratungsstelle an. Menschen von 16 bis 35 Jahren finden hier Bestätigung, Gesprächspartner/innen mit den gleichen Fragen, fachkundige Hilfe bei der Suche nach Antworten und Lösungswegen. Zunächst stehen oft medizinische Fragen im Vordergrund, z. B. bei AIDS. Insbesondere in Transfällen ist die Zusammenarbeit verschiedener Fachmediziner/innen notwendig. Hier arbeitet die Queer Factory mit dem interdisziplinären Zentrum für Geschlechtsforschung der Charité in Berlin zusammen.
"Modelle jenseits der Normalitätsmuster sollten bereits in der Schule vorkommen und frühzeitig als Teil der Realität dargestellt werden."
Häufig müssen Finanzen und die Wohnsituation geklärt werden, oft auch der ausländerrechtliche Status, z.B bei Flüchtlingen aus Staaten, die Homosexualität verfolgen. Erst wenn diese Grundproblematiken geklärt sind, rücken Fragen der Qualifizierung und Ausbildung in den Vordergrund. Ausgangspunkte für berufliche Planungen sind stets die Stärken und Fähigkeiten - nicht das Maß an Normalität. Die Queer Factory bietet berufsorientierende Praktika in Szenecafés, im Medien- und Veranstaltungsbereich, sie kooperiert mit handwerklichen und künstlerischen Betrieben.
Normalitätsmuster frühzeitig verändern
Förderinstrumente wie Aktivierungshilfen, Einstiegsqualifizierung, Bürgerarbeit und Bundesfreiwilligendienst werden zur Stabilisierung genutzt. Viele, die sich mehr und mehr in Nischen (LSBT-freundliche Orte) zurückgezogen haben, können ausprobieren und trainieren, wie sie in einem "normalen" Umfeld zurechtkommen. Nach Möglichkeit schließen sich Ausbildungen an, sei es in einem Betrieb, einer außerbetrieblichen Ausbildungsstätte oder in einer Schule. Dabei werden sie begleitet und unterstützen sich gegenseitig durch neue Rollenvorbilder und Selbsthilfe.
Dieses Umfeld kann ausgesprochen hilfreich sein. So berichtet Bock von einem jungen Mann, der neun Mal die Schule wechseln musste, häufig in der Psychiatrie untergebracht war und mehrere Suizidversuche hinter sich hatte. Er hat mit Unterstützung von Queer Factory zunächst den Schulabschluss nachgemacht, eine Ausbildung mit guten Noten abgeschlossen und war Vorsitzender der Jugend- und Ausbildungsvertretung.
Was brauchen junge Menschen mit Queer-Hintergrund, damit ihre berufliche und gesellschaftliche Integration gelingt? Carsten Bock sieht notwendige Veränderungen vor allem in der Haltung der anderen, in der gesellschaftlichen Akzeptanz. Die zeigt sich auch darin, dass Modelle jenseits der Normalitätsmuster bereits in der Schule vorkommen und frühzeitig als Teil der Realität dargestellt werden. "Darum geht es gerade in Baden-Württemberg", stellt Bock den aktuellen Bezug her.
LSBT-Jugendliche benötigen ihnen entsprechende Beratungs- und Freizeitangebote, geschützte Räume, in denen sie sich offen erproben, treffen und ausprobieren dürfen, wo sie als Person und in ihrer Gesamtheit anerkannt sind. So lautet eine Schlussfolgerung der DJI-Studie. Sie weist aber gleichzeitig darauf hin, dass die Jugendlichen Fachstellen möglicherweise nicht aufsuchen, damit Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung nicht zum Hauptproblem gemacht wird. Jugendliche im Übergang Schule/Beruf haben mit vielen Einrichtungen zu tun: Bildungsträger, Jugendämter, Freizeiteinrichtungen ebenso wie Schulen, Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe. Die wenigsten Fachkräfte wissen etwas über die Lebenssituationen und Erfahrungen von LSBT-Jugendlichen. Um ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, angemessen zu reagieren, Diskriminierung und soziale Exklusion zu vermeiden, müssen die Themen sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität hier verbreitet, Hintergrundwissen vermittelt und ein entsprechendes Bewusstsein geschaffen werden.