23.05.2011
Produktiv und flexibel zum Schulerfolg
Produktives Lernen als Beispiel guter Praxis
von Petra Lippegaus-Grünau
Mecklenburg-Vorpommern steht vor großen bildungspolitischen Herausforderungen: dem Land geht der Nachwuchs aus, gleichzeitig hat sich die Anzahl der Schüler und Schülerinnen, die die allgemein bildende Schule ohne jeglichen Abschluss verlassen, in den letzten zehn Jahren nahezu verdoppelt. 25 Prozent der Jugendlichen brechen ihre Erstausbildung ab.
Einen Schlüssel für Veränderungen sahen Verantwortliche des Bildungsministeriums zunächst in besonderen Angeboten für die Schülerinnen und Schüler, die durch das übliche Unterrichtsangebot nicht ihren Entwicklungsmöglichkeiten entsprechend gefördert und gefordert werden können. Auf der Suche nach neuen Ideen ließ sich Norbert Frank, im Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur verantwortlich für Grundsatzangelegenheiten der Bildungs- und schulartübergreifenden Schulentwicklung, von den nordischen Küstennachbarn inspirieren. In Finnland fand er Schulen, die nicht nur die Produktivität in den Mittelpunkt des Lernens stellten, sondern den Jugendlichen individuelle Wege für ihre Schullaufbahn ermöglichten.
Das Konzept des Produktiven Lernens
Für seine Vision, individuelle Bildungsinteressen durch produktive Tätigkeiten in Beruf und Alltag auszubilden, fanden er und seine Mitarbeiter/innen Kooperationspartner bei regionalen Unternehmen, der Agentur für Arbeit, in der Schulsozialarbeit, vor allem aber beim Berliner Institut für Produktives Lernen in Europa (IPLE).
Bild: Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern
Das Institut hatte bereits in den 1990er Jahren in Berlin das Konzept des Produktiven Lernens geschaffen. Als Produktives Lernen bezeichnet es eine Bildungsform, die das traditionelle schulische Lernen in den letzten Schuljahren der allgemein bildenden Schule ersetzt. Dabei wird der individuelle Bildungsprozess aus der produktiven Tätigkeit in "gesellschaftlichen Ernstsituationen" - im Beruf oder im Alltag - heraus entwickelt. Ein Schuljahr im Produktiven Lernen ist in drei Trimester gegliedert. "Die PL-Schüler/innen sind drei Monate lang an drei Tagen pro Woche in einer individuell gewählten Praxis tätig: in einer Tischlerei, in einem Gemüsegeschäft, bei einer Zeitung, in einem Krankenhaus, bei Amnesty International, beim Fernsehen oder wo sonst etwas gesellschaftlich "Ernstes" geschieht. Gemeinsam mit den sie beratenden Pädagog/inn/en gestalten die Jugendlichen individuelle Curricula auf der Basis ihrer Tätigkeitserfahrungen. Jede/r PL-Schüler/in erhält eine Stunde Individuelle Bildungsberatung pro Woche." Das Produktive Lernen verbindet die Allgemeinbildung mit einer individualisierten und praxisbezogenen Berufsorientierung.
Die Bildungsform des Produktiven Lernens wird seit über 20 Jahren in Deutschland eingesetzt und weiterentwickelt. Aus den Anfängen im Pilotprojekt "Die Stadt-als-Schule Berlin" 1987 und den ersten Schulversuchen ab 1996 in Berlin wurde das Konzept zum Produktiven Lernen einschließlich des projektbegleitenden Weiterbildungsstudiums mittlerweile in die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen transferiert. In Berlin ist Produktives Lernen mittlerweile im Schulgesetz verankert. Mecklenburg-Vorpommern ist Vorreiter, was die landesweite Einführung des Produktiven Lernens als zentrales Element der Flexiblen Schulausgangsphase in nichtgymnasialen Bildungsgängen an den allgemein bildenden Schulen (in den Jahrgangsstufen 8 bis 10) angeht.
Die Umsetzung in Mecklenburg-Vorpommern
Das Bildungsministerium führte das Produktive Lernen 2005 als Modellprojekt an sechs Standorten ein, und weitete es mit dem Schuljahr 2008/2009 auf 25 Standorte aus, 2010/2011 kamen zwei weitere hinzu. Das Konzept sieht so aus: Die letzten Jahre der Regionalen Schule - das ist eine Kombination ehemaligen Haupt- und Realschulen - sind als "flexible Schulausgangsphase" umgestaltet. Die Schülerinnen und Schüler bleiben so lange in der Schule, wie es ihren individuellen Bildungsbedürfnissen entspricht: mindestens zwei, höchstens vier Jahre. Das Lernen erfolgt auf der Basis von Tätigkeit und Erfahrungen im "wirklichen Leben", es gibt einen sehr hohen Praxisanteil, besondere Lernwerkstätten und spezifische Unterrichtsmethoden. So entstehen im Rahmen von Schule individuelle Bildungsverläufe: die Schülerinnen und Schüler gestalten ihre Bildungsprozesses eigenverantwortlich. Sie erleben ihre Neigungen, wählen den dazu passenden Lernweg und passen die Intensität des Lernens an die angestrebten Ziele und Lernwege an.
Das Produktive Lernen ist ein freiwilliges Angebot. Schülerinnen und Schüler, die am Produktiven Lernen teilnehmen möchten, müssen sich bis Anfang Mai schriftlich bei der Schule um die Aufnahme in die entsprechende Gruppe bewerben. Die Schulen führen Aufnahmegespräche ab Mai durch. Als Aufnahmekriterien zählen das Interesse am Produktiven Lernen, die Bereitschaft zur aktiven Gestaltung des eigenen schulischen Bildungsprozesses sowie ein gewisses Maß an Teamfähigkeit und Kommunikationsbereitschaft.
Aus dem Erleben der eigenen Stärken und Fähigkeiten entwickeln die Jugendlichen Selbstvertrauen, Verantwortungsbewusstsein und Eigeninitiative. Sie entscheiden sich verstärkt, sich den Anforderungen des Arbeits- und Ausbildungsmarktes zu stellen.
Mit der Einführung des Produktiven Lernens wird der Unterrichtsalltag völlig neu organisiert. Das Schuljahr ist in Trimester gegliedert, in jedem Trimester wählen die Schülerinnen und Schüler einen neuen Praxislernort, meist kleinere Betriebe. Nach jedem Trimester wird ein Bildungsbericht mit Punktwerten erstellt, die in Abschluss-, Abgangs- oder Übergangszeugnissen Ziffernnoten zugeordnet werden. Die Schülerinnen und Schüler können so bei einer zweijährigen Teilnahme am Produktiven Lernen bis zu sechs unterschiedliche Praxisorte kennen lernen.
An drei Tagen in der Woche lernen die Schüler/innen an selbst gewählten Praxisplätzen in Betrieben, sozialen, politischen und kulturellen Einrichtungen sowohl praktisch als auch theoretisch. Sie bearbeiten individuelle Aufgaben und erhalten am Praxisplatz einen auf den jeweiligen Beruf zugeschnittenen praxisnahen Unterricht in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch. Jedem Schüler / Jeder Schülerin steht während des betrieblichen Lernens neben der Lehrkraft ein/e betriebliche/r Mitarbeiter/in als Praxismentor/in zur Seite. Schule und Unternehmen arbeiten also Hand in Hand und sind im zu vermittelnden Lehrstoff aufeinander abgestimmt.
An zwei weiteren Tagen pro Woche lernen die Schüler/innen in der Schule auf der Basis ihrer Praxiserfahrungen sowie ihres Praxisfeldes. Die fachlichen und kulturellen Gegenstände werden genutzt, um die eigene Praxis zu verstehen und das Handeln zu qualifizieren.
Individuelle Unterstützung und Begleitung der Jugendlichen
Ein starker Personenbezug und die größtmögliche Partizipation der Schülerinnen und Schüler an ihrem Bildungsprozess sind Prinzipien des Produktiven Lernens. Jede Schülerin und jeder Schüler erhält eine Stunde individuelle Bildungsberatung in der Woche. Gemeinsam mit den beratenden Pädagoginnen und Pädagogen gestalten die Schülerinnen und Schüler individuelle Curricula auf der Basis ihrer Tätigkeitserfahrungen. Sie sollen ihre individuellen Bildungsbedürfnisse mit den praktischen Erfahrungen und den gewählten kulturellen und fachlichen Themen verknüpfen.
Die Bildungsentwicklung der Schülerinnen und Schüler wird fortwährend von ihnen selber, den Lehrkräften und den Praxismentorinnen und Praxismentoren evaluiert, um die weiteren Bildungsprozesse planen und steuern zu können. Ein individueller Bildungsbericht, der gemeinsam von den Lehrkräften und den Schülerinnen und Schülern in der individuellen Bildungsberatung entwickelt wird, dokumentiert die Bildungsentwicklung.
Nationale und internationale Einbindung
Partner des Bildungsministeriums in Mecklenburg-Vorpommern ist das IPLE, das unter anderem die beteiligten Lehrkräfte umfassend berät und begleitet. Das IPLE bietet Unterstützung bei der standortspezifischen Entwicklung des Bildungsangebotes und bei der Dokumentation der Projektentwicklung in Jahresevaluationen. Es sichert den Qualitätsstandard des Produktiven Lernens in Mecklenburg-Vorpommern und zertifiziert das Weiterbildungsstudium.
Die Qualifizierung der beteiligten Lehrkräfte ist das Herzstück des Ansatzes, ohne die die Durchführung nicht möglich wäre. In einem zweijährigen projektbegleitenden Weiterbildungsstudium zu Pädagoginnen und Pädagogen des Produktiven Lernens werden diese unter anderem darauf vorbereitet, den tiefgehenden Rollenwechsel vom Unterrichten zur Lernbegleitung zu vollziehen. Ihre neuen Aufgaben im Produktiven Lernen umfassen die Projektentwicklung, Bildungsberatung, Gruppenmoderation und Evaluation.
Im Internationalen Netz Produktiver Bildungsprojekte und Schulen (INEPS) besteht für die Pädagoginnen und Pädagogen die Möglichkeit der internationalen Kooperation. Den Schülerinnen und Schülern bietet sich die Gelegenheit, an Austauschprogrammen teilzunehmen.
Ergebnisse und Erfahrungen
Die Entwicklung innerhalb eines Schuljahres wird durch Entwicklungsberichte sowie durch Verbleibsuntersuchungen festgehalten. Sie gehören zur internen Evaluation, durchgeführt vom IPLE. Eine externe Evaluation hat das Zentrum für Lehrerbildung an der Universität Rostock übernommen.
Die zuvor in Mecklenburg-Vorpommern sehr ungünstigen Quoten erfolgreicher Schulabschlüsse sind im Modellversuch erheblich verbessert: Die Erfolgsquote beim Schulabschluss lag am Ende des Schuljahres 2009/10 bei 82 % - und das bei Schülerinnen und Schüler, die unter normalen Umständen als abschlussgefährdet einzustufen wären. Auch die Vermittlungsquoten in duale Ausbildungsverhältnisse oder andere stabile Perspektiven sind relativ hoch.
Im Hinblick auf die Jugendlichen zeigte sich, dass die Individualisierung des Lernens Über- und Unterforderung verhindert und die Leistungsmotivation fördert. Das Produktive Lernen führt zu einer deutlich gestiegenen Bereitschaft, sich mit fachlichen Themen auseinanderzusetzen. Aus dem Erleben der eigenen Stärken und Fähigkeiten entwickeln die Jugendlichen Selbstvertrauen, Verantwortungsbewusstsein und Eigeninitiative. Sie entscheiden sich verstärkt, sich den Anforderungen des Arbeits- und Ausbildungsmarktes zu stellen.
Die freie Form des Arbeitens konnten einige Schülerinnen und Schüler für sich nutzen, andere waren mit dieser Art des selbstorganisierten Lernens zunächst überfordert und brauchten benötigten klaren Arbeitsstrukturen und Zielvorgaben. Auch Reflexionsmedien wie Lerntagebücher und Reflexionsjournale stießen z. B. auf Schwierigkeiten, dies verbesserte sich mit zunehmender Erfahrung
Positive Auswirkungen zeigt das Produktive Lernen über die einzelnen Schülerinnen und Schüler hinaus auf die Entwicklung von Schulqualität: Über 100 Lehrerinnen und Lehrer engagierten sich in der zweijährigen Qualifizierung und beendeten die Fortbildung erfolgreich. An allen Schulen wurden mit dem neuen Bildungsangebot erhebliche curriculare, organisatorische, sächliche und räumliche Änderungen umgesetzt. Schuljahre und Versetzung sind in diesem Modell abgeschafft, der eine verlässt die Schule nach neun Jahren, die anderen bleibt zwölf Jahre bis zum erfolgreichen Schulabschluss. Zunächst gedacht als "Auffangbecken für auffällige Schülerinnen und Schüler" wirkt sich das Produktive Lernen mittlerweile positiv auf die gesamte pädagogische Arbeit der Schule aus. Der innerschulische Austausch wurde verstärkt, mit allen Schulleitungen wurde konstruktiv zusammen gearbeitet.
Das Bildungsministerium beabsichtigt aufgrund der positiven Erfahrung, ausgehend vom methodisch-didaktischen Konzept des Produktiven Lernens verstärkt wirtschafts- und praxisnahe Lernformen in den Unterricht aufzunehmen.
Diese Projektbeschreibung basiert u. a. auf der Projektbeschreibung des Produktiven Lernens in Mecklenburg-Vorpommern in folgenden Veröffentlichungen: