03.05.2012
Hoffnung am Teich der Tränen
Praxisbericht aus dem Landkreis Nienburg
von Petra Lippegaus-Grünau
Im Landkreis Nienburg spiegeln die Stadtteile Bad Rehburg (Rehburg-Loccum) und Nienburg-Lehmwandlung wider, wie nachteilig sich der Strukturwandel auf Stadtteile auswirken kann. Genau an diesen Problemen setzen Programme an, die Städtebauförderung mit Arbeitsmarktförderung kombinieren.
Gesellschaftlicher Zündstoff im "Madeira des Nordens"
Inmitten früherer königlicher Badeanlagen in Bad Rehburg liegt der Tränenteich. Hier, in der Nähe der Landeshauptstadt Hannover, idyllisch in den Bergen und ganz in der Nähe des Steinhuder Meers gelegen, lockte einmal das "Madeira des Nordens". In der Zeit der Romantik zog der bekannte Kurort die Hannoversche Aristokratie an, es entstanden königliche Badeanlagen mit Badehäusern, Kurhotels, einer Wandelhalle, einem Kurpark und einer Kapelle. In all der Pracht der Natur, der Kunst und der Architektur flossen aber auch jede Menge Tränen, die dem Teich zu seinem Namen verhalfen. An seinem Ufer saßen zahlreiche junge Mädchen, die in den Kuranlagen arbeiteten und abends ihr Heimweh und ihren Kummer in das Wasser weinten. Wer den Ort besucht, der spürt - verblüfft - noch immer die enorme Traurigkeit dieses Ortes.
Der alte Glanz zerfiel; Ende des 20. Jahrhunderts konnte man das gesamte Areal kaum noch betreten, weil es überwuchert war. Anfang des 21. Jahrhunderts wurden Teile der Kuranlagen saniert, z. B. für Ausstellungsgebäude im Badehaus. Daneben blieben große Gebäude, die heute für Heime, z. B. für Suchterkrankte oder Menschen mit Behinderungen und für den Maßregelvollzug, genutzt werden. Deren Bewohnerinnen und Bewohner stellen auch den größten Teil der Bevölkerung im Stadtteil. Das senkt Ansehen wie auch Preise und zieht Menschen an, die sich andere Wohnungen nicht leisten können. So wohnen hier neben dem medizinischen Personal der Einrichtungen viele Familien mit sozialen Problemen. Die ca. 60 Jugendlichen des Stadtteils hängen hier gewissermaßen fest, denn der Flächenlandkreis Nienburg / Weser, zu dem die Stadt Rehburg-Loccum gehört, ist zwar flächenmäßig einer der größten in Niedersachsen, hat aber sehr wenige Einwohnerinnen und Einwohner und eine entsprechend begrenzte Infrastruktur. Busse fahren häufig nur analog zur Schule.
"Wo fehlen Stellschrauben?" "Wie können wir Spielräume eröffnen?" so formulieren die Gesprächspartner/innen zwei Leitfragen des Projekts.
Auch im Stadtteil Lehmwandlung, der 30 km weiter innerhalb desselben Landkreises zur Stadt Nienburg gehört, hat der Strukturwandel deutliche Spuren hinterlassen. In den 60er Jahren wurden die Geschossbauten von der Britischen Armee als Wohnquartier genutzt. Nach dem Abzug der Streitkräfte 1996 standen die Siedlungen leer, Familien mit Migrationshintergrund, vielfach Spätaussiedler/innen zogen zu. Es entwickelte sich ein junger multikultureller Stadtteil mit gesellschaftlichem Zündstoff: Konflikte, hohe Jugend- und viel Langzeitarbeitslosigkeit, damit frustrierende Vorbilder für Lebenslaufmodelle, Isolation - dabei gab es weder wohnortnahe Ausbildungs- und Arbeitsplätze noch Einkaufsmöglichkeiten.
Stadtentwicklung und stadtteilbezogene Arbeitsmarktpolitik
Die "Abwärtsspirale" in derartig benachteiligten Stadtteilen aufzuhalten und die Lebensbedingungen vor Ort umfassend zu verbessern, dieses Ziel verfolgt das Städtebauförderprogramm "Soziale Stadt-Investitionen im Quartier" des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) und der Länder. Die geförderten Stadtteile weisen in der Regel komplexe Problemlagen in den Bereichen Städtebau und Umwelt, infrastrukturelle Ausstattung, lokale Ökonomie, Soziales, Integration und nachbarschaftliches Zusammenleben auf, das beeinträchtigt auch das Image. Im Stadtteil Lehmwandlung, der seit über 10 Jahren vom Programm Soziale Stadt profitiert, wurden Wohnungen saniert, Straßen gebaut, das Wohnumfeld saniert und vor allem soziale Projekte initiiert - Treffpunkte, Beratungsangebote und Freizeitmöglichkeiten.
Aus der Erkenntnis, dass in städtebaulich, wirtschaftlich und sozial benachteiligten Stadtquartieren häufig Langzeitarbeitslose und gering qualifizierte Jugendliche leben, hat der Bund das Städtebauförderungsprogramm "Soziale Stadt" um ein stadt- und ortsteilbezogenes arbeitsmarktpolitisches Instrument ergänzt. Das ESF-Bundesprogramm "Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier (BIWAQ)" des BMVBS fördert Projekte, die städtebauliche Investitionen mit den Handlungsfelder Bildung, Beschäftigung, soziale Integration und Teilhabe der Bewohnerschaft sowie Wertschöpfung im Quartier verbinden.
Das BIWAQ-Projekt KOBRA
Der Fachdienst Jugendarbeit und Sport des Landkreises ergriff diese Chance, die Qualifikation und die soziale Situation der Jugendlichen in den Stadtteilen Bad Rehburg und Nienburg-Lehmwandlung zu verbessern. Engagierte Fachkräfte wie Projektleiter Klaus Borck, Koordinatorin Daniela Fenne und Simone Sommerfeld, die als freie Mitarbeiterin Konzept und Umsetzung unterstützt, bauten auf positiven Erfahrungen auf.
Eine Beteiligung am Netzwerk Demokratie hatte gezeigt, dass Förderprogramme etwas in Bewegung setzen, so Borck. Der Landkreis hat dabei sein Selbstverständnis als ein "Ort der Demokratie" ausgefeilt, ein Ort, an dem Leute leben, die die Möglichkeit und die Verpflichtung sehen, sich einzusetzen.
Gemeinsam mit anderen Netzwerkern, Fachkräften und Ehrenamtlichen nutzten sie die BIWAQ-Mittel, um mit dem Projekt KOBRA neue Impulse zu setzen und gleichzeitig mehr Transparenz in ein oft unüberschaubares Feld zu bringen. KOBRA steht für die Koordinierungsstelle für Beschäftigung und regionale Ausbildung. Als Kernaufgabe vernetzt die Koordinierungsstelle mehrere örtliche Praxis-Bausteine im Projekt. Alle Bausteine zielen auf den gelungenen Übergang in Ausbildung, Beruf und Arbeit, setzen dabei aber an der Situation im Stadtteil und an den dort vorhandenen Bedürfnissen und Möglichkeiten an.
Wie das konkret aussieht, veranschaulicht der Baustein I, das SPRATTUS Ausbildungsrestaurant im Stadtteil Lehmwandlung. Wo früher der Kaufmann Wolfgang Sprotte einen kleinen EDEKA-Markt betrieben hatte, der neben einer Gaststätte, einer Filiale der Sparkasse und einer Lottoannahmestelle bis dahin ein kleines Zentrum für den Stadtteil bot, hatte jahrelang tristes Nichts geherrscht. Um hier Abhilfe zu schaffen, gründete sich ein gemeinnütziger Verein und initiierte ein Begegnungszentrum, das mit einem kleinen Spezialitätengeschäft und einer Gaststätte kombiniert zwischen Kindergarten und Sparkasse wieder für Leben sorgte. Unter dem alten Namen Sprotte bringt es seit 2007 die Menschen miteinander ins Gespräch: durch Gruppenangebote, als Plattform für bestehende Gruppen, als Treffpunkt oder Raum für Feiern und nicht zuletzt als Ort für Rat und Unterstützung. Jede/r kann sich mit dem eigenen Wissen, Können und Interesse einbringen: zum Beispiel lernen Frauen hier Deutsch, Kinder malen und lernen, Senioren turnen - und alle gemeinsam feiern Feste.
Der Baustein des BIWAQ-Projekts "Sprattus" ergänzt das bereits im Stadtteil Erreichte um Elemente von Arbeit und Qualifizierung. Dies ist besonders wichtig für diejenigen, die aus unterschiedlichen Gründen den Stadtteil kaum verlassen. Das Nachbarschaftsrestaurant und eine Qualifizierungsküche geben ihnen die Möglichkeit, echte Arbeitsbedingungen kennen zu lernen und sich ggf. zu qualifizieren. Es soll ältere Menschen wie auch Familien mit Kindern mit leckerem und gesundem Essen versorgen und so soziale Isolation durchbrechen. Neben einem regelmäßigen Mittagessen in Restaurantatmosphäre werden im Rahmen von BIWAQ auch die Kinder des benachbarten Kindergartens und der Hausaufgabenhilfe mit Mittagessen versorgt. Die anfallenden Aufgaben in der Küche und im Service machen verschiedene Formen der Qualifizierung im Quartier möglich: Jugendliche und Erwachsene, Männer und Frauen bekommen in kurzen (Schul-)Praktika, mehrmonatigen Arbeitsgelegenheiten oder individuell gestalteten Jobs eine professionelle Einweisung in Küchen- und Haushaltsbelange. Eine Profiküche wurde in Betrieb genommen, die nun einer jungen Frau auch eine Vollausbildung ermöglicht. Das Christliche Jugenddorfwerk hat einen Teil seiner Ausbildung "Fachkraft im Gastgewerbe", bis zu deren Auslaufen im Service des Restaurants "Sprottelino" durchgeführt.
Fehlende Stellschrauben finden - Spielräume eröffnen
Die Orientierung an den komplexen Bedingungen des jeweiligen Stadtteils, die Vernetzung der verschiedenen Beteiligten und die Ausrichtung darauf, dass Menschen vor Ort tatsächlich profitieren, diese Merkmale kennzeichnen auch die anderen Bausteine des KOBRA-Projekts. "Wo fehlen Stellschrauben?" "Wie können wir Spielräume eröffnen?" so formulieren die Gesprächspartner/innen zwei Leitfragen des Projekts. Als Antworten darauf sind neben SPRATTUS folgende Teilprojekte entstanden:
- Baustein II: Der CJD Nienburg berät Jugendliche aus den Quartieren bei der Berufswegeplanung. Er setzt soziokulturelle Projekte um, über die die Jugendlichen ihre eigenen Stärken, Schwächen und Talente identifizieren können und so in ihrer Berufsfindung g
- Baustein III: Die Volkshochschule Nienburg führt Projekttage wie "Teamtrainings durch Erlebnispädagogik" mit drei Schulen aus dem Quartier und dem Nahumfeld durch.
- Baustein IV: Mit der Kernzielgruppe Schulverweigerer arbeitet die Jugendwerkstatt Nienburg daran, Bildung und Kompetenzen zu erwerben, sie bietet gemeinsame Gruppenangebote (z. B. therapeutisches Reiten, Selbstbehauptung, Antiaggressionstraining, Fotobear
- Baustein V: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von KOBRA und dem Pro-Aktiv Center bieten gemeinsam ein mobiles Beratungsangebot im Kontext von aufsuchender Jugendberufsarbeit bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen (15 bis 27 Jahre) an. Hinzu kommen Beratu
Und der Tränenteich? Statt ihr Schicksal zu betrauern, nehmen Jugendliche in Rehburg-Loccum notwendige Veränderungen nun selbst in die Hand. Gemeinsam mit Dörte Dach, der Bildungsreferentin, die für die Stadt und die Heimvolkshochschule nun hier eingesetzt ist, überlegen sie, welche Angebote hier fehlen, welche sie entwickeln und umsetzen können. So ist u. a. im Rahmen des Bausteins VI ein Leseangebot entstanden, bei dem Jugendliche Heimbewohnern wie z. B. Unfallopfern vorlesen. Über ihr Projekt, ihren Stadtteil, ihre Ideen und Forderungen haben sie einen Film gedreht, der zeigt, dass sie sich nicht unterkriegen lassen.
- „Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier (BIWAQ)“
BIWAQ verbessert mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und des BMUB die Chancen von Bewohnerinnen und Bewohnern in benachteiligten Stadtteilen. Das Programm fördert Projekte zur Integration in Arbeit und zur Stärkung der lokalen Ökonomie.