12.02.2010
Vom Kapital der sozialen Verantwortung
von Thomas Sattelberger
Berufliche Bildung muss heute mehr vermitteln als nur Beschäftigungsfähigkeit. Damit Jugendliche die Herausforderungen der Zukunft meistern können, muss Ausbildung sie entsprechend ausstatten: Sie müssen das Lernen lernen, Netzwerke bilden, ein Bewusstsein der eigenen Identität entwickeln und motiviert werden, sich in der Gesellschaft zu engagieren. Dazu sollten Unternehmen sich stärker als Teil des Ganzen verstehen und selbst soziale Verantwortung wahrnehmen - auch für diejenigen, die am Rande stehen.
In den vergangenen Jahrzehnten haben wir in der Ausbildung sehr viel, vielleicht zu viel Wert darauf gelegt, Fachmänner und Fachfrauen auszubilden. Damit meine ich nicht die sprichwörtlichen "Fachidioten", sondern die betrieblichen Profis voller "Employability" (Beschäftigungsfähigkeit) die sich durch Fachkompetenz, Methodenkompetenz und Sozialkompetenz auszeichneten.
Heute sehen wir, dass es nicht reicht, nur versierte Technikerinnen oder Techniker und kühl rechnende Kaufleute auszubilden. Wir brauchen auch nicht nur Problemlöser, sondern engagierte, mündige Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Es ist deshalb gesellschaftliche Verantwortung jedes Ausbildungsunternehmens, couragierte und zivilbürgerlich engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auszubilden, die das Unternehmen kritisch und konstruktiv begleiten, die sich in Demokratie und Gesellschaft einsetzen. Hinter diesem Anspruch bleibt die duale Ausbildung in Deutschland weit zurück.
Eine moderne Ausbildung muss junge Menschen auf alle Herausforderungen des Lebens vorbereiten, sie muss sie mit den Kapitalien ausstatten, die sie dafür brauchen. Vier Trends bestimmen die moderne Ausbildung, sie bestimmen, welche Kapitalien wir jungen Menschen mit auf den Weg geben müssen:
1. Niemand kann mehr alles wissen.
Mit der Explosion des Wissens im Internet ist die Notwendigkeit, immer wieder dazu zu lernen, enorm gestiegen. Junge Menschen brauchen mehr Lernkapital denn je, dabei geht es vor allem darum, das Lernen zu lernen. Bildung im Sinne einer Lern-, Analyse- und Beurteilungsfähigkeit öffnet die Tür zu einer Welt der Chancen. Wem es daran fehlt, der verspürt schnell ein Gefühl der Ausweglosigkeit.
2. Unsere Gesellschaft verliert an Kontur und Struktur.
Das Leben in unserer Gesellschaft wird bunter und unübersichtlicher, Lebensformen wandeln sich, Menschen aus anderen Kulturen verändern die Gesellschaft. Klassische Sozialstrukturen lösen sich auf, sei es in der Familie oder im Beruf. Im Gegenzug entstehen breite Netzwerke aus Bekanntschaften, die sich über das Internet verbreiten. Allerdings verlaufen die Entwicklungen für verschiedene Gesellschaftsmitglieder unterschiedlich. Nach einem Jahrhundert des Zusammenwachsens entwickeln sich soziale Schichten wieder auseinander.
Wir brauchen junge Menschen, die offen sind, die aufeinander zugehen. Wer sich in der Welt zurecht finden will, braucht eine hohe Integrationsfähigkeit und Beziehungskompetenz. Bildungsprozesse müssen Netzwerkkapital vermitteln, um Brücken miteinander und zueinander zu bauen.
3. Gewissheiten lösen sich auf, politisch, kulturell und beruflich.
In unserer Gesellschaft existiert keine "Leitkultur" mehr - falls es sie je gab. Die Religion hat ihre prägende Kraft verloren, viele Institutionen und Traditionen ihre Bedeutung. In der individualisierten Konsum- und Medienwelt ist jede/r ein/e Suchende/r. Auch die berufliche Welt verliert ihre klaren Grenzen. Die Zugehörigkeit zu der einen identitätsstiftenden Berufsgruppe ist Vergangenheit.
Ich erlebe, dass junge Menschen heute mehr die alte "Sicherheit" suchen, z. B. rückwärtsgerichtet im "Hotel Mama". Einen Rückzug in die vermeintliche Sicherheit betrachte ich mit Sorge. Junge Menschen müssen hungrig nach Neuem, nach Lernen und Veränderung sein. Um Veränderungen standfest zu bewältigen, müssen Ausbildungen ihnen den Erwerb von Identitätskapital ermöglichen. Junge Menschen brauchen mehr personale Stabilität und Selbstwertgefühl, wenn sie nicht nach vermeintlichen Wahrheiten und Sicherheiten suchen, sondern Unternehmerinnen und Unternehmer ihres eigenen Lebens werden sollen.
4. Die Verantwortung anonymisiert sich.
Je lockerer die Bindungen und je differenzierter die Welten, umso mehr läuft der Mensch Gefahr, sich nur in das Ich zurückzuziehen und seine Umwelt zu ignorieren. Es werden Entscheidungen vermieden, mit denen wir Verantwortung für andere übernehmen und mit denen wir uns vielleicht selbst in Frage stellen. Die vierte Anforderung nenne ich deshalb Engagementkapital, wir müssen Jugendlichen Verantwortungswillen und Werte vermitteln. Die Botschaft an die Jugend lautet: Unsere Gemeinschaft braucht Sie und Sie brauchen die Gemeinschaft. Seien Sie mutig, beziehen Sie Position, übernehmen Sie Verantwortung - für sich und ihre Mitmenschen.
Zusammenfassend ist es unsere Aufgabe, eine Kultur des Lernens zu erschaffen, in der die jungen Menschen diese vier Kapitalien erwerben können: Lern-, Netzwerk, Identitäts- und Engagementkapital. Wir brauchen dafür eine Renaissance des Bildungsauftrags, ja sogar des Erziehungsauftrags in der Ausbildung. Ausbilderinnen und Ausbilder müssen sich als Ermöglicher und Kulturgestalter verstehen.
Was können, was müssen wir tun? Wir sehen es beispielsweise als Aufgabe unseres Unternehmens, uns selbst zu engagieren und das Engagement der Auszubildenden zu fördern. Die Telekom hat deshalb unter dem Motto "Verantwortung gewinnt!" einen Preis unter allen 11.000 Auszubildenden ausgelobt. 93 Teams aus dem gesamten Bundesgebiet setzten sich in ihren Projekten mit Inhalten wie Gerechtigkeit, Respekt, Zivilcourage oder Umweltbewusstsein auseinander. Unter den drei Siegerteams hatten zwei mit behinderten und benachteiligten Jugendlichen gearbeitet.
Für das Projekt "Gemeinsam STARK" konzipierten Essener Azubis eine wirklich barrierefreie, gemeinsame Kommunikationsplattform im Internet für behinderte wie nicht behinderte Menschen. Das Projekt "Du musst nicht perfekt sein - nutze Deine Chance" unterstützte Teilnehmende einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme in Schwerin bei der Berufsorientierung. Die Azubis stellten den BvB-Teilnehmenden die Ausbildungsberufe der Deutschen Telekom anschaulich dar, sie organisierten gemeinsame Betriebsbesuche und Kontakte.