21.07.2021 | Redaktion
Inklusion statt Kompensation
Die Expertise "Übergang neu denken" ist ein Plädoyer für die Neuausrichtung des Ausbildungssystems aus menschenrechtlicher Perspektive
Der Fokus der Expertise richtet sich auf die Wechselverhältnisse zwischen den Herausforderungen im Jugendalter in der Zeit zwischen Schule und Beruf und dem institutionellen Gefüge, das dieses Lebensalter begleitet. Sie geht der Fragestellung nach, welche Implikationen aus menschenrechtlicher Perspektive für eine inklusive Ausgestaltung des deutschen Berufsausbildungssystems unter Berücksichtigung aktueller empirischer Befunde zum Übergang Schule – Beruf erwachsen und identifiziert teils weitreichende Reformbedarfe des Systems.
Das 40-jährige Bestehen der Benachteiligtenförderung am Übergang Schule – Beruf hat der Paritätische Gesamtverband zum Anlass genommen, um sich mit diesem Übergangsbereich kritisch auseinanderzusetzen und eine Zwischenbilanz zu ziehen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie das Berufsbildungssystem neu und damit inklusiv ausgerichtet werden kann. Mit der Expertise "Übergang zwischen Schule und Beruf neu denken: Für ein inklusives Ausbildungssystem aus menschenrechtlicher Perspektive" wollen die Autorinnen und Autoren eine Debatte zur Neubewertung der Jugendhilfe und besonders der Jugendsozialarbeit in diesem Kontext anregen. Ihr Ziel ist es, das Recht aller jungen Menschen auf Zugang zu und Teilhabe an Bildung und Ausbildung zu verwirklichen und ihnen nicht nur den Beginn, sondern auch den erfolgreichen Abschluss und damit den Übergang ins Berufsleben zu ermöglichen.
Berufsausbildungssystem und Ausbildungsförderung neu bewerten
Die Fachdiskussion in der Kinder- und Jugendhilfe wird in der jüngeren Zeit vor allem durch die Erkenntnisse des 15. Kinder- und Jugendberichts des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) aus dem Jahr 2017 und durch aktuelle empirische Befunde zum Übergang Schule – Beruf bestimmt. Es wird deutlich, dass die drei Kernherausforderungen in der Jugendphase – Qualifizierung, Verselbstständigung, Selbstpositionierung – sowie die Verlängerung der Jugendzeit eine Neubewertung des Aufwachsens im institutionellen Gefüge erfordern. Da dies auch für die Institutionen der Berufsbildung gilt, müssen das Berufsausbildungssystem und die Berufsausbildungsförderung insgesamt in den Blick genommen werden. In der Expertise, die der Paritätische Gesamtverband im Jahr 2020 in Auftrag gegeben hat, setzen sich die Autorinnen und Autoren mit dem Übergangsbereich von der Schule in Ausbildung und Beruf kritisch auseinander und beschreiben auf der Grundlage eines menschenrechtsbasierten Ansatzes die Anforderungen an und Perspektiven für das Ausbildungssystem.
Die drei Kernherausforderungen in der Jugendphase – Qualifizierung, Verselbstständigung, Selbstpositionierung – sowie die Verlängerung der Jugendzeit erfordern eine Neubewertung des Aufwachsens im institutionellen Gefüge.
Neue Perspektiven für das Ausbildungssystem
Ausgehend von den relevanten UN-Konventionen entwickeln die Autorinnen und Autoren der Expertise menschenrechtlich ableitbare Kriterien der Bewertung des derzeitigen Bildungssystems, das an den allgemeinbildenden Schulbesuch anschließt. Dann folgen Überlegungen zur Rolle der Jugendsozialarbeit als kompensatorisches oder nachteilsausgleichendes Unterstützungssystem, das eine auf die individuellen Hilfebedarfe abgestimmte ganzheitliche Förderung bereitstellt. Abschließend werden zentrale Anforderungen an eine Umgestaltung der institutionellen Arrangements beruflicher Bildung und der begleitenden Unterstützungssysteme hin zu einem inklusiven Ausbildungssystem formuliert.
Ein Ausbildungssystem für alle zu schaffen, bedeutet im Sinne des inklusionsbezogenen Grundsatzes: "Zielgleiche Förderung soweit wie möglich, zieldifferente Zertifizierung falls nötig!"
Inklusion statt Kompensation
Die Autorinnen und Autoren blicken in konzeptioneller Hinsicht durchaus kritisch auf den kompensatorischen Auftrag der Jugendsozialarbeit, da sie [die Jugendsozialarbeit] ihr Handeln aufgrund der individuellen Problemlagen bestimmter Zielgruppen begründe, die anhand einer spezifischen sozialen Benachteiligungskonstellation kategorisiert werden und die aufgrund ihrer individuellen Lage nicht an den regulären Formen des Ausbildungs- oder Arbeitsmarktes, der Bildung etc. teilhaben konnten. Junge Menschen sind demnach "beispielsweise arbeitslos, weil sie individuell benachteiligt sind und sind nicht benachteiligt, weil die regulären Arbeitsmärkte oder das Bildungswesen ihnen die Zugänge verwehren"(1).
Die Expertinnen und Experten formulieren als Gegenentwurf einen "rechtebasierten Ansatz, wie er in den UN-Konventionen formuliert ist"(2). Ein Ausbildungssystem für alle zu schaffen, bedeutet [demnach] im Sinne des inklusionsbezogenen Grundsatzes[:] "Zielgleiche Förderung soweit wie möglich, zieldifferente Zertifizierung falls nötig!"(3) Wenn sich die Akteure der Jugendsozialarbeit stärker auf das Recht aller jungen Menschen auf eine diskriminierungsfreie gleichberechtigte soziale Teilhabe beriefen, so die Autorinnen und Autoren, dann "würde sie [die Jugendsozialarbeit] sich einer inklusiven jugendpolitischen Orientierung öffnen"(4). Die Expertise gibt zu diesem Wandel Handlungsempfehlungen, die in acht Kategorien eingeteilt sind:
- Inklusiv gestaltete Berufsausbildung im Verständnis der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)
- Ausschluss diskriminierender personenbezogener Kategorisierungen im Verständnis der UN-BRK
- Verankerung von Individualisierungsansätzen in den Curricula der Bildungsangebote
- Realisierung eines pluralen Ausbildungsplatzangebots
- Strukturelle Verankerung von Unterstützungsleistungen im dualen und Schulberufsausbildungssystem
- Institutionelle Verankerung von Partizipations- bzw. Mitbestimmungsmöglichkeiten der jungen Menschen
- Konsequente Qualitätssicherung zur inklusiven Gestaltung der (Aus-)Bildungsprozesse an allen Lernorten
- Gezielte Entwicklung inklusiver Arbeitsmärkte