17.10.2013

Heute hier, morgen dort - Projekt zur beruflichen Qualifizierung junger Schausteller macht Schule

Praxisbericht zum LEONARDO DA VINCI-Projekt "ett-edu"

von Michael Gräf

Im Mittelalter waren sie als "fahrendes Volk" wenig angesehen, sie selbst bezeichnen sich heute als "Reisende". In der Saison ziehen jugendliche Schaustellerinnen und Schausteller mit ihren Familien von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, an eine reguläre Berufsausbildung war deshalb bisher kaum zu denken. Einen europaweit einmaligen Ansatz für berufliche Qualifizierung bietet nun das Projekt "ett-edu - Berufliche Ausbildungsangebote für junge Schausteller in Europa".

Wenn sich von April bis Dezember die Karussells und Riesenräder drehen und vielfarbige Neonlichter an Fahrgeschäften, Losbuden und Essensständen blinken, sind auch die jugendlichen Angehörigen von Schaustellerfamilien gut eingebunden. Gerade in den Kleinbetrieben ist ihre Arbeitskraft dann unverzichtbar. Etwa 5.000 junge Schaustellerinnen und Schausteller werden in den nächsten Jahren den Betrieb der Eltern übernehmen oder einen eigenen gründen. Auf einem globalisierten Freizeitmarkt mit wachsender Konkurrenz reicht das bisher praktizierte "Learning by Doing" nicht mehr aus - um bestehen zu können, benötigen die jungen Leute zunehmend professionelles Know-How. Doch wie, wann und wo können sie dieses erwerben?

Das Projekt "ett-edu" (european transfer travellers' vocational education) setzt auf eine Kombination von (Berufs-)Schulbesuch im Winter und E-Learning im Sommer. Außerhalb der Saison absolvieren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes berufsschulisches Programm am Berufskolleg der Stadt Herne. Während der Reisezeit können Sie diese Lehrgänge durch E-Learning-Angebote vertiefen und erweitern.

Von der Cranger Kirmes nach Europa

Die Idee dazu entstand in Herne. Hier, wo jedes Jahr mit der Cranger Kirmes eines der größten deutschen Volksfeste stattfindet,  kam man schon vor acht Jahren auf die Idee, dem Schaustellernachwuchs ein berufsschulisches Angebot zu machen. Denn auch Schaustellerkinder sind nicht nur schul-, sondern auch berufsschulpflichtig. Die Jugendlichen erhielten im Projekt "Bekosch - Entwicklung beruflicher Kompetenzen für beruflich Reisende durch blockweisen Unterricht" die Möglichkeit, Blockseminare zu absolvieren und so ihre Berufsschulpflicht zu erfüllen. Zunächst übernachteten sie in dieser Zeit auf dem winterlich verlassenen Kirmesplatz, heute eher in Pensionen.

Als passende Ergänzung, die den Jugendlichen auch in der Sommersaison Bildung ermöglicht, wurde im Projekt "eLvet - eLearning for vocational education of travellers"  ein passendes E-Learning-Konzept entwickelt.  Dieses ermöglicht ihnen, trotz unterbrochener Schullaufbahnen und lückenhafter Lernzeiten zu lernen und ihre Lernmotivation zu behalten. So wurden zwei E-Learning-Module entwickelt: "Marketing" und "Existenzgründung". Sie decken den Unterricht während der Reisezeit von zwei Jahren ab. Wie das E-Learning-Programm funktioniert, lernen die jungen Schaustellerinnen und Schausteller bereits während des Blockunterrichtes im Winter. Während sie unterwegs sind, bearbeiten sie Arbeitsaufgaben über die in Herne eingerichtete Plattform mit ihrem Notebook. Wenn sie Fragen haben oder Hilfe benötigen, steht ihnen jeder Zeit ein Tutor zur Verfügung.

Je mehr Bildungsangebote wir schaffen, die den Verhältnissen der Schaustellerfamilien angepasst sind, umso mehr steigt die Begeisterung, diese Angebote auch wahrzunehmen.

 

Einen Bedarf nach zielgruppengerechten Ausbildungskonzepten für reisende Jugendliche gibt es nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Das Folgeprojekt "ett-edu" führte diese Ansätze deshalb nicht nur zu einem Gesamtkonzept zusammen, sondern erweiterte sie auch um wesentliche Aspekte im europäischen Kontext. Mit Unterstützung der Ruhr-Universität Bochum hat das Projekt das Herner Ausbildungskonzept nach Frankreich und Großbritannien transferiert. So wurden das Lycée Peltier im französischen Ham und das Gloucestershire College in Großbritannien als Partner gewonnen. Dort finden wie in Herne, aber länderspezifisch angepasst und weiterentwickelt, Pilotkurse für Jugendliche statt. Nach dem Ende der EU-Förderung sollen alle drei Standorte als selbständige Ausbildungsstätten für Schaustellerjugendliche aufrechterhalten werden.

Beruf: Schausteller/in

Welche Kompetenzen braucht denn ein Schausteller oder eine Schaustellerin? Eine fundierte Antwort auf diese Frage entwickelte das Projekt "ett-edu" in drei Schritten:

  • Die ins Projekt einbezogenen Schaustellerverbände entwarfen ein Leitbild für das Tätigkeitsfeld.
  • Auf dieser Grundlage wurde eine modulares berufliches "Ausbildungssystem" entwickelt - inspiriert von der Idee der dualen Berufsausbildung in Deutschland.
  • In diesem theoretischen Rahmen entstand ein Katalog beruflicher Kompetenzen für den Schaustellerberuf mit zehn Lerneinheiten.

Diese Lerneinheiten enthalten kaufmännische Unterrichtseinheiten wie Warenbeschaffung oder Kundenkommunikation sowie Module etwa zu Veranstaltungsmanagement und Unternehmensführung. Sie wurden jeweils in den Niveaustufen des Europäischen Qualifikationsrahmens ausgestaltet. Neben schulischem Lernen werden dabei auch informell erworbene Kenntnisse und Fertigkeiten berücksichtigt.

Überzeugungsarbeit im Hintergrund

Neben der praktischen Arbeit mit den Jugendlichen und der konzeptionellen Entwicklungsarbeit bemüht sich das Projekt aber auch um Überzeugungsarbeit. So berichtet Dr. Ulrich Voigt, Beauftragter der Bezirksregierung Detmold für die Ausbildung von Kindern beruflich Reisender, von den alltäglichen Schwierigkeiten bei den Familien und den Möglichkeiten, sie für die Bildungsangebote des Projekts zu gewinnen: "Aufgrund der engen Familienstrukturen und der Einbindung der Kinder in den Familienbetrieb ist es manchmal schwierig, Schule und familiäre Pflichten miteinander in Einklang zu bringen. Je mehr Anreize wir durch Bildungsangebote schaffen, die den Verhältnissen der Schaustellerfamilien angepasst sind, umso mehr steigt die Begeisterung, diese Angebote auch wahrzunehmen."

Doch nicht nur auf der Seite der Eltern waren und sind Vorbehalte abzubauen, auch die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Schulen und Schulaufsicht sowie Schaustellern und Schaustellerverbänden steht auf der Projekt-Agenda. Im Mittelpunkt der Projektarbeit steht immer auch die Lobbyarbeit für den Stellenwert von Bildung als Lebens-Mittel, das aus Sicht des "Schaustellerbeauftragten" Ulrich Voigt Selbständigkeit und eigenverantwortliches Handeln ermöglicht: "Bildung ist der Schlüssel, um in Zukunft wettbewerbsfähig zu sein - das gilt für den Betreiber eines Kettenkarussells oder Mandelwagens genauso wie für den Topmanager eines Börsenunternehmens."

Was einmal von der Cranger Krimes ausging, könnte ein europäisches Erfolgsmodell werden. Die entstandenen Lerneinheiten gelten als mögliche Keimzelle für eine europaweit anerkannte Ausbildung von Schaustellern und Schaustellerinnen. Das ungewöhnliche Projekt zieht auch mediale Aufmerksamkeit auf sich. So gibt ein sehr anschaulicher Filmbericht des WDR Einblick in die Praxis in Herne und in das Erleben zweier junger Schausteller/innen.

Weitere Informationen

  • Bericht des WDR
    Dieser Filmbericht aus der Lokalzeit Rhein/Ruhr kann auf YouTube angesehen werden.