12.04.2024
Instrumente kombinieren – Kompetenzen entdecken
Im Prozess der Beruflichen Orientierung hat sich die Verbindung von Reflexion und Handlungsorientierung besonders bewährt
von Carolin Kunert
Potenzialanalysen als Beitrag zur Beruflichen Orientierung sind schon lange etabliert. In einer Studie, initiiert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), wurde nun überprüft, welche Vorgehensweise für die Zielgruppe junger Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen tatsächlich die wirksamste im Sinne der Entwicklung von Berufswahlkompetenz ist. Das Ergebnis hat Wege zu neuen Lösungen aufgezeigt.
Potenzialanalysen haben ihren Ursprung in der Personalauswahl und -entwicklung von Wirtschaftsunternehmen. Im Kontext des Übergangs Schule – Beruf wurden vergleichbare Verfahren in Deutschland seit Mitte der 1990er-Jahre zunächst primär im Zusammenhang mit der beruflichen Integrationsförderung eingesetzt. In der frühen Beruflichen Orientierung tauchen Potenzialanalysen seit Anfang der 2000er-Jahre auf, zum Beispiel als "Kompetenzdiagnose" im Rahmen des Projekts "Berufsstart" in Thüringen. Im Berufsorientierungsprogramm BOP des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sind sie seit 2010 ein eigenständiger Bestandteil.
Im Mittelpunkt steht nicht das Verfahren, sondern der junge Mensch. Bild: Adobe Stock | Valerii Honcharuk
Kritische Stimmen zu Potenzialanalysen oder auch zu Vorgängerkonzepten hat es im Laufe der Jahre immer wieder gegeben. So kritisierte der Bildungs- und Kompetenzforscher Rüdiger Preißer bereits 2009/2010, dass die Eignungsanalyse in BVB-Maßnahmen ihr Ziel verfehle. "Es gibt eine Reihe von Kritikpunkten: erhebliche konzeptionelle und methodische Mängel, aufwändige, aber eher technokratisch angewandte Verfahren, keine Orientierung an der Person, vor allem aber kaum Auswirkungen auf die Förderung."(1) Martin Koch vom Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung der Universität Hannover beschreibt die Kompetenzfeststellung als pädagogische Aufgabe, bei der Kompetenzvorstellungen und Kompetenzerwartungen miteinander "verhandelt" werden müssen, damit die teilnehmenden Jugendlichen davon profitieren können.(2) Seiner Einschätzung nach haben Kompetenzfeststellungsverfahren nur dann einen Mehrwert, wenn sie ganzheitlich pädagogisch eingebettet sind. Dazu gehört, dass Kompetenzen aus den Biografien der teilnehmenden Jugendlichen heraus verstanden und reflektiert werden müssen.
Sinn und Nutzen von Potenzialanalysen in der frühen Beruflichen Orientierung
In der Durchführung lehnten sich die Potenzialanalysen in der frühen Beruflichen Orientierung in der Vergangenheit weitgehend an Qualitätsstandards an, die aus dem Kontext der beruflichen Integrationsförderung stammen, ganz konkret an die "Qualitätsstandards für Verfahren der Kompetenzfeststellung im Übergang Schule – Beruf", herausgegeben im Jahr 2007 vom BIBB (Bundesinstitut für Berufsbildung) und IMBSE (Institut für Modelle beruflicher und sozialer Entwicklung).(3)
Die Qualitätsstandards zur Durchführung von Potenzialanalysen wurden für das Berufsorientierungsprogramm BOP nur leicht angepasst. Im Laufe der Zeit und infolge von länderspezifischen Gesamtkonzepten haben sich verschiedene Durchführungsvarianten der Potenzialanalyse entwickelt, die sich in der Ausgestaltung zum Teil vom primär handlungsorientierten, eher diagnostischen Ansatz der BOP-Potenzialanalyse entfernt haben.
Forschungsfragen |
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Fördern die Verfahren die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler zur Selbstreflexion und stärken sie ihre Motivation, sich mit Berufswahlfragen zu beschäftigen? |
Lange wurde aber nicht systematisch überprüft, welche Vorgehensweise für die Zielgruppe von jungen Schülerinnen und Schülern an allgemeinbildenden Schulen (7. und 8. Jahrgang) tatsächlich die beste – also die wirksamste – im Sinne der Entwicklung von Berufswahlkompetenz ist.
Diese Ausgangslage hat das BMBF und das BIBB im Jahr 2018 dazu veranlasst, die Wirksamkeit unterschiedlicher Durchführungsvarianten der Potenzialanalyse und damit auch die "Gültigkeit" der Qualitätsstandards der BOP-Potenzialanalyse wissenschaftlich zu überprüfen. In einer vom BIBB in Auftrag gegebenen Interventionsstudie – ISPA – wurden die Effekte von verschiedenen Ansätzen der Potenzialanalyse untersucht, und zwar bezogen auf die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler zur Selbstreflexion sowie ihre Motivation, sich mit Berufswahlfragen zu beschäftigen.
Mit einem Experimentaldesign wurden vier verschiedene, eigens für die Studie zusammengestellte, Interventionen miteinander verglichen. Eine fünfte Gruppe ohne Intervention bildete die Kontrollgruppe. Verglichen wurden:
- Eine primär handlungsorientierte (der im BOP verwendeten ähnliche) Potenzialanalyse,
- eine primär computergestützte Potenzialanalyse (mit Modulen von Profil AC),(4)
- eine primär reflexions- und biografieorientierte Potenzialanalyse (mit ausgewählten Aufgabenstellungen von "Mission Ich"),(5)
- ein einstündiges Reflexionsgespräch mit pädagogischen Fachkräften ohne Potenzialanalyse.
Mit der ISPA-Studie konnte bestätigt werden, dass die Kombination aus Potenzialanalyse und Reflexionsgespräch grundsätzlich wirksam ist und die Unterschiede zwischen den untersuchten Ansätzen nicht sehr groß sind. Vielmehr wiesen sie jeweils andere Stärken und Schwächen auf. Vor allem individuelle Voraussetzungen und Merkmale der Schülerinnen und Schüler hatten einen besonders großen Einfluss darauf, ob ein Ansatz funktionierte oder nicht. Deutlich hat sich auch gezeigt, dass Reflexionsphasen, insbesondere Eins-zu-eins-Gespräche, einen hohen Stellenwert für die Wirksamkeit der Potenzialanalyse haben.
Reflexionsphasen, insbesondere Eins-zu-eins-Gespräche, haben einen hohen Stellenwert für die Wirksamkeit der Potenzialanalyse.
Eher überraschend war das Ergebnis, dass das einstündige, biografieorientierte Reflexionsgespräch unter den Rahmenbedingungen der Studie ähnlich gut, in Teilen sogar besser wirkte, als eine zweitägige Potenzialanalyse plus Reflexionsgespräch. Grundlage des einstündigen Gesprächs waren ein strukturierter Gesprächsleitfaden und Materialien, die die Schülerinnen und Schüler zu einer Auseinandersetzung mit bisherigen Erfahrungen sowie berufswahlrelevanten Stärken und Interessen anregen sollten. Nicht überprüft wurde, ob ein langes Gespräch mit einer vorherigen Aufgabenphase zu noch besseren Ergebnissen führt.
Doch kann ein Gespräch die Potenzialanalyse ersetzen?
Vor der Empfehlung der Fachleute steht die Diskussion der Ergebnisse. Bild: Julia Berlin
In Runden mit Expertinnen und Experten aus Politik, Wissenschaft und Praxis wurde im Anschluss an die ISPA-Studie ausführlich diskutiert, ob ein einstündiges Reflexionsgespräch die Potenzialanalyse vollständig ersetzen könnte. Alle Expertinnen und Experten waren sich einig: ein Gespräch allein wird den Erkenntnismöglichkeiten einer Potenzialanalyse zu den Fähigkeiten und Potenzialen der Schülerinnen und Schüler nicht gerecht. Handlungsorientierte Aufgaben ermöglichen beispielsweise das Entdecken von verborgenen Talenten, die nicht auf der Grundlage von Erfahrungen aus der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler, einschließlich der Schule, reflektiert werden können. Darüber hinaus kann die Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler um eine stärkenorientierte Außenperspektive ergänzt werden. Eine Expertenrunde aus dem Jahr 2020 unterstreicht: "Im Kern soll mit den handlungsorientierten Aufgaben Raum für Erfahrungen und Erfolgserlebnisse geschaffen werden. Wichtig ist, einen Zusammenhang zwischen Inhalten und Kompetenzen herzustellen und den Jugendlichen eine direkte Reflexion ihrer Erfahrungen zu ermöglichen."
Handlungsorientierte Aufgaben ermöglichen das Entdecken von Talenten, die sich nur im konkreten Tun zeigen.
Die Kombination eines handlungsorientierten Ansatzes zur Auseinandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten und Stärken mit einem langen Reflexionsgespräch konnte in einem Modellvorhaben in Schleswig-Holstein erprobt werden. Hier wurde ein einstündiges Reflexionsgespräch im Anschluss an den in Schleswig-Holstein flächendeckend eingeführten Stärken-Parcours(6) durchgeführt. Der Stärken-Parcours ist ein niedrigschwelliges, handlungsorientiertes Instrument zu einer ersten spielerischen Auseinandersetzung von Schülerinnen und Schülern der 7. Klasse mit dem Thema Stärken. Im Reflexionsgespräch lag der Fokus auf einer Auseinandersetzung mit den eigenen Stärken und ersten beruflichen Interessen auf der Grundlage von bisherigen Erfahrungen der Schülerinnen und Schülern aus Schule, Freizeit und Familie. Das Modellvorhaben wurde durch ein Team um Thorsten Bührmann, Professor für Sozialwissenschaften und Forschungsmethodik an der Medical School of Hamburg, evaluiert.
Auch in Schleswig-Holstein kann das einstündige Gespräch in vielerlei Hinsicht überzeugen. In den Gesprächen ist es in aller Regel gut gelungen, am individuellen Stadium der Beruflichen Orientierung der Schülerinnen und Schüler anzusetzen und eine Weiterentwicklung ins nächste Stadium anzustoßen, wie zum Beispiel von einer BO-Ideenlosigkeit zu ersten groben Ideen.(7)
Subjektiver Berufsorientierungsprozess mit Reflexionsgespräch; Grafik: Abschlussbericht Schleswig-Holstein, S. 46
Das Gespräch konnte dazu beitragen, dass sich den Schülerinnen und Schülern der Zusammenhang zwischen ihren eigenen Stärken und Interessen und den erforderlichen Fähigkeiten für eine Berufsausübung erschlossen hat. Dies wiederum konnte zu einer Kopplung der eigenen Person mit dem Thema der Beruflichen Orientierung beitragen. Auch hat sich in vielen Fällen ein neuer Blick auf oder auch eine größere Sicherheit bezogen auf die eigenen Stärken ergeben.
Die Gespräche wurden sowohl von den Schülerinnen und Schülern als auch den durchführenden pädagogischen Fachkräften als besonders sinnhaft wahrgenommen. Darüber hinaus ließen sich auch positive Wirkungen auf Teildimensionen der Berufswahlkompetenz nachweisen. Dabei hat sich die zugrunde gelegte Gesprächsstruktur und die Arbeit mit einem Leitfaden bewährt. Dadurch ist es gelungen, einerseits eine ziel- und ergebnisorientierte und gleichzeitig "positiv-energetisierende" Atmosphäre herzustellen und anderseits flexibel auf die individuelle Ausgangslage der Schülerinnen und Schüler einzugehen.
Im Gespräch erschließt sich den Schülerinnen und Schülern der Zusammenhang zwischen ihren eigenen Stärken und Interessen und den erforderlichen Fähigkeiten für eine Berufsausübung.
Schlussfolgerungen aus den Erkenntnissen und Erfahrungen
Potenzialanalysen und (längere) biografieorientierte Reflexionsgespräche schließen sich nicht aus, idealerweise sollten sie bestmöglich kombiniert werden. Dabei sind verschiedene Wege je nach Zielsetzung, Zielgruppe und Gesamtkontext denkbar. Was sich ausschließt, sind allerdings Potenzialanalysen ohne Reflexion.
- Biografische Erfahrungen einbeziehen
Die Einbeziehung von biografischen Erfahrungen (und damit Fähigkeiten) aus dem Kontext von Freizeit, Familie und Schule trägt einerseits zu einer Wertschätzung der Schülerinnen und Schüler bei, die über den Moment der Potenzialanalyse hinausgeht. Andererseits ist sie wichtig, um Kompetenzvorstellungen und -erwartungen aus der Biografie der Jugendlichen hinaus zu verstehen und zu reflektieren. Biografische Erfahrungen können sowohl über Einzelgespräche als auch über Kleingruppensettings einbezogen werden. Wichtig ist in jedem Fall der Fokus auf positive (Erfolgs-)Erlebnisse. - Handlungsorientierte Aufgaben machen den Unterschied
Der Wert der handlungsorientierten Aufgaben liegt darin, dass sie das Entdecken von Talenten ermöglichen, die sich nur in konkreten Handlungssituationen zeigen. Daraus ergeben sich Erkenntnismöglichkeiten, die nicht allein auf der Grundlage von Erfahrungen aus der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler (einschließlich Schule) reflektiert werden können. Die dabei mögliche systematische stärkenorientierte Fremdeinschätzung kann die (manchmal kritische) Selbsteinschätzung bereichern. Beim Einsatz von handlungsorientierten Aufgaben in der Beruflichen Orientierung geht es weniger um "diagnostische Härte", als vielmehr um die Freude am Ausprobieren (neuer Dinge) und eine vertrauensvolle Atmosphäre, die die Jugendlichen zum Zeigen von Potenzial ermutigt. Die abschließende Verständigung über die wahrgenommenen Fähigkeiten und Stärken ist wesentlicher Bestandteil dieser Aufgaben. - Neue Erfahrungsräume ermöglichen umfassende Reflexion
Reflexionsgespräche "funktionieren" grundsätzlich auch ohne vorherige praktische Erfahrungen. Dies unter der Voraussetzung, dass die Gespräche von gut geschulten pädagogischen Fachkräften geführt werden und eine Gesprächsstruktur vorliegt, die einerseits ein ziel- und ergebnisorientiertes Vorgehen sicherstellt und andererseits genug Flexibilität zulässt, um auf die individuellen Bedarfe und Ausgangslagen der Schülerinnen und Schüler einzugehen. Die Vorschaltung von handlungsorientierten Aufgaben bietet im Vergleich aber einen klaren Mehrwert.
Die vorliegenden Forschungsergebnisse legen nahe, die Stärken verschiedener Ansätze miteinander zu kombinieren.
Neue Standards für die BOP-Potenzialanalyse
Für die BOP-Potenzialanalyse wurde aus der ISPA-Studie ein klarer Optimierungsbedarf abgeleitet, weil nicht alle Schülergruppen von den bisher so im Fokus stehenden handlungsorientierten Aufgaben gleichermaßen profitieren. Die vorliegenden Forschungsergebnisse legen vielmehr nahe, die Stärken verschiedener Ansätze miteinander zu kombinieren und die Reflexionsanteile zu erhöhen. In diesem Sinne wurden die Qualitätsstandards des BMBF zur Durchführung von Potenzialanalysen im Rahmen des BOP gründlich überarbeitet. Die handlungsorientierten Aufgaben wurden stark reduziert, biografieorientierte Aufgaben sowie eine individuelle Standortbestimmung aufgenommen und die Reflexionsanteile zeitlich und qualitativ ausgeweitet. Die neuen Standards sind seit dem 1. Januar 2023 in Kraft.
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